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20. Kapitel

Ob Festungen und viele andere von den Fürsten getroffene Sicherheitsmaßnahmen nützlich oder schädlich sind.

Das Heidentum stellte den Ianus mit einem Doppelantlitz dar, um sein Wissen um Vergangenheit und Zukunft anzudeuten. In übertragenem Sinne ließe sich dies Götterbildnis auch auf den Fürsienberuf deuten: wie Ianus soll der Fürst zurückschauen auf die Geschichte aller vergangenen Jahrhunderte, heilsame Lehre für sein Verhalten und Denken da zu finden; wie Ianus soll er vorwärts schauen mit durchdringendem Scharfblick, mit jener überlegenen Geistes- und Urteilskraft, die alle innerlichen Zusammenhänge wahrnimmt und in der gegenwärtigen Weltlage künftige Gestaltungen zu lesen weiß.

Unerläßlich für den Fürsten ist's, sich in die Vergangenheit zu versenken: da findet er seine Vorbilder an erlauchten, an lauteren Männern, da ist für ihn die Schule der Weisheit. Zweckdienlich ist's, wenn er sich in die Zukunft vertieft: dort lernt er mit allem Mißgeschick, das er zu fürchten hat, rechnen, mit allen Schicksalsschlägen, vor denen er sich decken muß; dort ist seine Schule der Klugheit. Beide hohe Fähigkeiten sind ein Erfordernis seines Berufes, wie Magnetnadel und Kompaß, die Wegweiser über das Meer, für den Seefahrer unentbehrlich sind.

Ein weiterer Wert geschichtlicher Kenntnisse liegt darin, daß solche uns die Möglichkeiten mehren, uns über uns selber klar zu werden; sie bereichern unser Denken, bieten uns wie im Bilde lebendige Anschauung von des Schicksals Wechselfällen sowie manch wertvolles Beispiel dafür, wie der Mensch sich helfen kann.

So ist auch eindringliches Bedenken der Zukunft von Wert: wir gelangen so zu einiger Fertigkeit im Entziffern der Geheimnisse des Schicksals. Wie wir unser Auge auf jede mögliche Wendung einstellen, rüsten wir uns zugleich auf alles, was bei Eintritt des Ereignisses am klügsten geschieht.

Fünf Fragen legt in diesem Kapitel Machiavell den Fürsten vor, denen sowohl, die in neuem Herrschaftsbesitz sich einrichten wollen, wie denen, deren Fürsorge nur der Befestigung ihres alten Besitzes gilt. Sehen wir zu, was die Klugheit dazu zu<82> sagen hat, wenn sie Vergangenheit und Zukunft zugleich im Auge behält und sich immer dabei innerhalb der Grenzen hält, die ihr Vernunft und Gerechtigkeit ziehen.

Erste Frage: Soll ein Fürst die Völker, die er seiner Herrschaft unterwarf, entwaffnen oder nicht?

Ich antworte darauf, daß seit Machiavell sich in der Kriegführung vieles verändert hat. Heut sind es der Fürsten eigene Armeen, mehr oder minder stark, die ihnen ihr Land verteidigen; einen Trupp bewaffneten Landvolks würde man nicht ernst neh-men, und eine Bürgerwehr gibt's allenfalls noch bei Belagerungen, wo jedoch gemeiniglich die Belagerer nicht dulden, daß die Bürger Soldatendienst tun, und ihnen mit der Androhung rücksichtsloser Beschießung das Handwerk zu legen suchen. Auch sonst ist's wohl ein Gebot der Klugheit, die Bürger einer eroberten Stadt, wenigstens für die erste Zeit, zu entwaffnen, zumal wenn man ihrer Haltung nicht ganz sicher ist. Als die Römer Britannien erobert hatten und das Land, wegen des aufrührerischen und kriegerischen Sinnes jener Stämme, nicht zu Ruhe und Frieden zu bringen vermochten, da gedachten sie ihren männlichen Sinn in Weichlichkeit zu ersticken, ihre kriegerische Wildheit zu dämpfen; es gelang auch so, wie man's zu Rom sich wünschte. Die Korsen sind eine Handvoll Menschen, tapfer und beherzt wie die Engländer, nie würde man sie mit gewaltsamen, höchstens mit gütigen Mitteln bändigen. Um auf dieser Insel die Herrschaft zu behaupten, halte ich's für unerläßlich, daß man den Einwohnern die Waffen nehme und ihre Wehrkraft breche. Da wir gerade von den Korsen reden, sei nebenbei ausgesprochen, welchen Mut, welche Mannhaftigkeit doch Freiheitsliebe den Menschen gibt; daß es darum ein Wagnis ist, sie zu unterdrücken, wie es eine Versündigung ist.

Die zweite Frage unseres Staatslehrers: Wem soll ein Fürst, wenn er eben eines neuen Gebietes Herr geworden, unter seinen neuen Untertanen mehr Vertrauen schenken, denen, die ihm zu seiner Besitzergreifung eine hilfreiche Hand geboten, oder denen, die zu ihrem angestammten Herrn in Treue gestanden und jenem den heftigsten Widerstand entgegengesetzt haben?

Wer durch verräterisches Einverständnis mit etlichen Bürgern eine Stadt in seine Gewalt gebracht hat, würde äußerst unklug handeln, wollte er dem Verräter trauen. Den ehrlosen Streich, den ein solcher zu euren Gunsten verübt, wird er jederzeit für einen andern zu wiederholen bereit sein, es kommt nur auf die Gelegenheit an. Auf der anderen Seite legten die, so sich in Treue für ihren rechtmäßigen Herrn bewährt hatten, damit eine Probe der Zuverlässigkeit ab, mit der sich rechnen läßt, die zu der Annahme berechtigt, sie dürften auch für ihren neuen Gebieter leisten, was sie für den alten geleistet haben, den sie, nur der Not gehorchend, verließen. Doch auch hier wird besonnene Klugheit nicht gleich allzu leichtherzig vertrauen, jedenfalls nicht, ohne Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben.

Doch setzen wir einmal den Fall, geknechtete Völker, die sich gezwungen sähen, das Joch ihres Zwingherrn abzuschütteln, beriefen einen auswärtigen Fürsten zu ihrem<83> Herrn, ohne daß irgendwelche geheimen Umtriebe von dessen Seite vorangegangen wären: hier, meine ich, muß der Fürst das Vertrauen, das man ihm entgegen, bringt, in vollem Maße erwidern. Ließe er's hier, bei diesem Anlaß denen gegenüber, die ihr kostbarstes Eigen in seine Hände legten, daran fehlen, so wäre das ein so würdeloses Stück von Undankbarkeit, daß es seinen Namen schänden müßte. Wilhelm von Oranien83-1 bewahrte bis an sein Lebensende denen, die seinen Händen die Zügel der englischen Herrschaft anvertraut hatten, seine Freundschaft und sein Vertrauen: seine Gegner aber verließen ihre Heimat und schlossen sich dem König Jakob an.

In Wahlkönigtümern, wo die Wahlen zumeist durch Umtriebe zustande kommen und wo der Thron, was man auch dawider sage, käuflich ist, wird der neue Herr nach meiner Ansicht mit Leichtigkeit Mittel und Wege finden, nach seiner Thronbesteigung seine Gegner in gleicher Weise zu erkaufen, wie er die Stimmen seiner Wähler gewonnen hat. Dafür ist das Beispiel Polen. Dort nimmt der Thronschacher so plumpe Formen an, daß der Kauf anscheinend auf offenem Markte vor sich geht, und die offene Hand eines Polenkönigs weiß jede Gegnerschaft aus dem Wege zu räumen; er ist auch in der Lage, die großen Familien sich zu gewinnen: durch Woy-wodschaften, Starosteien und Übertragung sonstiger Ämter. Freilich die Polen haben für Wohltaten ein sehr kurzes Gedächtnis, und so muß man immer wieder nachschütten, sodaß die polnische Republik das reine Danaidenfaß ist: vergeblich wird der freigebigste König seine Wohltaten ausgießen, genug werden sie nie bekommen. Da jedoch ein König von Polen recht viele Gnaden austeilen muß, so spart er mit seinen Mitteln, wenn er nur bei solchen Gelegenheiten seineHand auftut, wo er eine Familie, die er mit Reichtum segnet, wirklich braucht.

Die dritte Frage Machiavells erörtert die Fürsorge um die Sicherheit eines Fürsten in einem Erbreiche: Frommt's ihm mehr, unter seinen Untertanen Eintracht zu fördern oder Uneinigkeit? Diese Frage war vielleicht zur Zeit der Voreltern Machiavells in Florenz angebracht, heutzutage wird sie wohl kein Mensch von staatsmännischer Einsicht in ihrer urwüchsigen Ungeschminktheit zulassen wollen. Ich brauchte ja nur die bekannte hübsche Gleichnisrede des Menenius Agrippa zu wiederholen, mit der er die Eintracht unter dem Römervolke wiederherstellte. Freilich die Freistaaten sind gewissermaßen auf die Erhaltung einer eifersüchtigen Spannung unter ihren Gliedern angewiesen; denn bei völligem Einvernehmen wandelt sich die Form der Regierung in eine Monarchie. Das geht natürlich die einzelnen Bürger nicht an, für sie ist Uneinigkeit nur vom Übel, sondern lediglich solche Persönlichkeiten, die durch leichtgeschlossenes Einvernehmen in die Lage kommen können, sich der höchsten Gewalt zu bemächtigen.

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Manche Fürsten halten die Uneinigkeit ihrer Minister für notwendig für ihre Zwecke. Sie vermeinen, sie brauchten sich des Betruges weniger zu versehen von Leuten, die gegenseitiger Haß nötigt, auf ihrer Hut zu sein. Mag immerhin der Haß auf der einen Seite so wünschenswerte Folgen haben, auf der anderen schafft er Wirkungen, die für den Nutzen dieser Fürsten recht bedenklich sind; denn siatt im Dienste des Fürsten zu wetteifern, durchkreuzen manchmal die Minister aus reiner Gehässigkeit die angemessensten, staatsförderlichsten Absichten und Pläne und verquicken mit ihren persönlichen Streitigkeiten die Sache von Fürst und Volk.

Nein, nichts fördert so sehr die Stärke einer Monarchie wie die innige, untrennbare Einheit aller ihrer Teile, und diese zu schaffen soll das Ziel eines weisen Fürsten sein.

Meine Antwort auf die dritte Frage Machiavells kann gewissermaßen zugleich als die Lösung seiner vierten gelten; doch wir wollen in aller Kürze überlegen und entscheiden, ob ein Fürst Parteibildungen, die sich gegen seine eigene Person richten, begünstigen darf oder ob er sich die Freundschaft seiner Untertanen erwerben soll.

Es hieße Ungeheuer in die Welt setzen, eigens um sie zu bekämpfen, wollte man sich Feinde machen, nur um sie zu bestehen. Natürlicher, vernünftiger, menschlicher ist es, sich Freunde zu erwerben. Glücklich die Fürsten, die das Hochgefühl der Freundschaft kennen! Glücklicher noch, die ihrer Völker Liebe und Zuneigung verdienen!

Wir kommen zur letzten Frage Machiavells, nämlich der: Empfiehlt sich für einen Fürsten die Unterhaltung von Festungen und Burgen, oder soll er sie schleifen?

Soweit hierbei kleinere Fürsten in Frage kommen, habe ich meine Meinung wohl schon im zehnten Kapitel gesagt84-1; wie soll's damit ein König halten?

Zu den Zeiten Machiavells war die ganze Welt im Zustande der Gärung, und ein Geist der Empörung und des Aufruhrs herrschte an allen Enden; ringsum nur rebellische Städte, tief aufgewühlte Völker, ringsum nur Anlaß zu Streit und Fehde, für Herrscher wie für Staaten. Dieses ewige Drunter und Drüber überall zwang die Fürsten, in den Städten ihre Burgen anzulegen, um auf diese Weise dem bürgerlichen Unruhgeist eine Faust vorzuhalten und die Leute an ein Bleibendes zu gewöhnen.

Seit jenem rauhen Zeitalter hott man nicht mehr soviel von Aufstand und Empörung, sei's nun, daß die Menschen der wechselseitigen Vernichtung und des Blutvergießens satt wurden, sei's, daß die Vernunft die Oberhand gewann; man möchte behaupten, jener unstete Geist habe sich müde gearbeitet und sei nunmehr zur Ruhe gekommen. Jedenfalls, um heute der Treue von Stadt und Land versichert zu sein, bedarf's keiner Bergfeste mehr.

Anders allerdings sieht's mit den Burgen und Befestigungen, die vor dem äußeren Feinde Schutz bieten und dem Staate eine höhere Sicherheit und Ruhe gewähren sollen. Da stellt sich der Nutzen der Festungen für einen Fürsten gleichwertig neben den des Heeres. Wirft er seine Streitmacht dem Feinde entgegen, so vermag er im<85> Falle einer verlorenen Schlacht diese selbe Streitmacht unter den Schutz der Kanonen seiner Festungen zu retten; während der Feind sich an die Belagerung einer Festung macht, gewinnt er Zeit, wieder zu sich zu kommen und neue Kräfte an sich zu ziehen, die womöglich, wenn er sie nur rechtzeitig zusammenbrachte, den Gegner zur AufHebung der Belagerung zwingen können.

Die letzten Kriege in Brabant, zwischen dem Kaiser und den Franzosen, rückten. fast garnicht vom Flecke; das machte die große Fülle der festen Plätze. Schlachten, in denen hunderttausend andere hunderttausend Mann schlugen, hatten gerade die Einnahme von ein oder zwei Städten zur Folge; im nächsten Feldzuge erschien dann der Gegner, der inzwischen Zeit gehabt, seine Verluste zu ersetzen, mit neuen Streitkräften auf dem Plan, und wieder Hub das Ringen an, ein Ringen um das, was im Vorjahre schon entschieden worden! In Landern mit vielen festen Plätzen werden Heere, die zwei Quadratmeilen bedecken, dreißig Jahre lang Krieg führen können, ohne, im glücklichen Falle, um den Preis von zwanzig Schlachten mehr denn zehn Meilen Landes zu gewinnen.

In offenen Ländern entscheidet dagegen der Ausgang eines Kampfes oder zweier Feldzüge das Glück des Siegers und unterwirft ihm ganze Königreiche. Alexander, Cäsar, Karl XII. dankten ihren Ruhm dem Umstande, daß sie in den Ländern, die sie eroberten, nur wenig befestigte Plätze vorfanden; der Besieger Indiens hatte in all seinen ruhmvollen Feldzügen nur zwei Belagerungen zu unternehmen, der Herr über das Schicksal Polens auch niemals mehr. Prinz Eugen, Villars, Marlborough, der Marschall von Luxemburg waren Feldherren von ganz anderem Schlage als Karl und Alexander; nur litt der Glanz ihrer Erfolge, die, genau genommen, die Leistung gen Alexanders und Karls überstrahlten, etwas darunter, daß sie Festungen zu bezwingen hatten.

Die Franzosen wissen den Wert von Festungen wohl zu würdigen: von Brabant bis zum Dauphine zieht es sich wie eine Doppelkette von befestigten Plätzen. Die französische Grenze gegen Deutschland gleicht dem offenen Rachen eines Löwen, der zwei Reihen drohender und gewaltiger Zähne weist und Miene macht, als wolle er alles verschlingen.

Damit wäre wohl der hohe Wert befestigter Städte zur Genüge dargetan.


83-1 Wilhelm III., Prinz von Oranien, Erbstatthalter der Niederlande, seit 1689 nach Vertreibung König Jakobs II. König von England († 1702).

84-1 Vgl. S. 42.