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15. Kapitel

Was dem Menschen, insbesondere aber dem Fürsten, Lob und Tadel schafft.

Maler und Geschichtsschreiber gleichen sich darin, daß sie beide das Bild des Menschen für die ferne Nachwelt festhalten. Das Bild des äußeren Menschen zeichnen die einen, das Bild des inneren Menschen, seine Taten und die Geschichte des menschlichen Geistes die anderen. Wie es nun Maler gibt, deren Pinsel, von der Hand der Grazien geführt, die Schönheitsfehler der Natur ausgleicht. Altersschaden mildert und alles, was ihre Urbilder entstellt, liebevoll abschwächt, so hat an mehr denn einer Stelle die beredte Darstellung von Bossuet und Fléchier Gnade für Recht ergehen lassen, allerhand Menschlichkeiten zurechtgerückt und aus bedeutenden Persönlichkeiten Heldengestalten gemacht. Wie es umgekehrt Maler gibt mit der Neigung, alles von der häßlichen Seite aufzufassen, Maler, die ein Antlitz frisch wie Milch und Blut ins Schmutzfarbene verkehren und die edelsten Umrisse und Züge dermaßen vergröbern, daß in ihrer Wiedergabe einer griechischen Venus oder eines Amorknaben kein Mensch mehr die Spuren der Praxitelischen Meisterhand erkennen würde, so droht dem Geschichtschreiber die gleiche Gefahr vom Parteigeiste. Pater Daniel zeichnet in seiner „Geschichte Frankreichs“ alle Ereignisse völlig schief, sobald die Calvinisten in Frage kommen; und etliche protestantische Darsteller, ebenso umbeherrscht und unweise wie jener würdige Pater, verschmähten es nicht, die Lügen ihrer leidenschaftlichen Voreingenommenheit über das unparteiische Zeugnis zu stellen, das sie der Wahrheit schuldeten, uneingedenk der obersten Pflicht des Historikers: die Tatsachen treu wiederzugeben, ohne Entstellung und Fälschung. Maler einer dritten Gattung haben einen Mischmasch von Geschichte und Trug zuwege gebracht, um Unholde, wie Ausgeburten der Hölle an Häßlichkeit, zur Darstellung zu bringen; als verstünde sich ihr Pinsel nur auf die Erfassung von Teufelsgesichtern, ward ihre Leinwand ein Abbild alles dessen, was die fruchtbarste und zugleich düsterste Einbildungskraft an wilden Nachtstücken von Bildern verdammter und höllischer Geister erschaffen konnte. Was ein Callot und Peter Testa in dieser Art Malerei, das ist Machiavell unter den Schriftstellern. Seine Darstellung macht aus der Welt eine Hölle und teuflische Wesen aus allen Menschen. Man möchte meinen, dieser menschenfeindliche und grillige Staatslehrer wolle das ganze Menschengeschlecht aus Haß gegen die gesamte Gattung verleumden, oder er habe es darauf abgesehen, die Tugend auszurotten, vielleicht, damit alle Bewohner der Erde seinesgleichen würden.

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Wenn Machiavell über Tugend spricht, setzt er sich der Gefahr der Lächerlichkeit aus, wie einer, der von Dingen redet, die er nicht versieht, und verfällt obendrein in Übertreibungen, die er an anderen verdammt. Haben einige Darsteller ein allzu rosiges Bild von der Welt entworfen, so ist sie bei ihm ein Abgrund von Niederträchtigkeit. Aus den verkehrten Voraussetzungen seiner Wahnvorstellungen ergeben sich naturgemäß nur falsche Schlußfolgerungen — ohne festen Mittelpunkt läßt sich kein Kreis schlagen, ohne eine erste Grundwahrheit nicht richtig denken.

Die sittlichen Forderungen dieser Staatslehre laufen darauf hinaus: nur an die Lasier halte dich, die dir Vorteil versprechen; andere opfere deinem Machtstreben; der Verruchtheil derWelt passe dich an, willst du anders unfehlbarem Verderben entgehen.

Selbstsucht ist der Schlüssel für dies Gedankengebäude, die Urkraft, wie Descartes' Wirbel und Newtons Schwerkraft. Sie heißt für Machiavell die Seele der Welt, der sich alles beugen muß, bis auf die Regungen des Gemütes. Doch zeugt die Voraussetzung, daß es in des Menschen Macht siehe, diese seine Regungen sich zu geben oder zu nehmen, von einem argen Mangel an Weltkenntnis; beweist doch die ganze Anlage unseres Leibes, daß Freude und Niedergeschlagenheit, Sanftmut wie Zornmütigkeit, Liebe und Gleichgültigkeit, Beherrschtheit wie Maßlosigkeit, mit einem Wort: alle unsere Gemütsregungen lediglich von der Beschaffenheit bestimmter Organe unseres Leibes abhangen, von der mehr oder minder feinen Anlage etlicher Fibern, etlicher Membranen, von der Dick- oder Leichtfiüssigkeit unseres Blutes und der Leichtigkeit oder Trägheit seines Umlaufs, von der Stärke unseres Herzens, der Beschaffenheit unserer Galle, der Größe unseres Magens und dergleichen mehr. Nun frage ich aber: Sind alle diese Teile unseres Leibes wohl imstande, sich den Gesetzen unserer Selbstsucht willig unterzuordnen? Mehr Vernunft hat wohl die Annahme des Gegenteils! Machiavell wird jedenfalls viele Andersgläubige finden, die den Gott Epikurs dem Cäsars vorziehen.

Nein, es gibt nur einen berechtigten Grund für ein vernunftbegabtes Wesen, sich dem wohltuenden Zwange seiner inneren Regungen zu widersetzen: die Einsicht dessen, was zuletzt seinem Besten dient und was dem Gemeinwohl frommt. Diese leidenschaftlichen Regungen erniedrigen unser Wesen, wenn wir uns ihnen wehrlos ausliefern, und richten uns leiblich zugrunde, wenn wir ihre Zügel schleifen lassen; nicht ganz unterdrücken soll man sie, aber meistern und ihnen eine Richtung geben zu Nutz und Frommen der Gesellschaft, einfach, indem man ihnen einen neuen Gegenstand anweist. Sollten wir's auch nie zu einem großen, regelrechten Siege in einem Entscheidungskampfe über sie bringen, der kleinste Vorteil über sie sei uns ein tröstlich Zeichen dafür, daß wir auf dem Wege sind, Herren über uns selbst zu werden.

Ich muß in diesem Kapitel für den Leser noch einen groben Widerspruch Machiavells anstreichen. Im Anfange heißt es: „Eine ganze Welt liegt zwischen dem, was einer tut, und dem, was einer sollte; jeder Mensch, der sein Tun und Lassen danach einrichten wollte, was ihm von dieser Pflicht der Menschen vorschwebt, nicht aber nach<62> dem, was sie in Wirklichkeit sind, der müßte mit Unfehlbarkeit untergehen.“ Der Verfasser hat vielleicht vergessen, wie er sich im sechsten Kapitel ausgelassen hat, wo er sagt: „Da es nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit ist, sein Vollkommenheitsbild ganz zu erreichen, so wird ein Kluger sich immer nur ein möglichst hohes Vorbild wählen, damit er, vermag er ihm nicht ganz gleichzukommen, doch zum mim besten den eigenen Leistungen einen Abglanz seiner Größe sichere.“ Machiavell ist zu bedauern um der Unzuverlässigkeit seines Gedächtnisses willen, wenn nicht der Mangel an Zusammenhang und Folgerichtigkeit in seinen Gedanken und Schlüssen noch bedauerlicher ist.

Er geht in seinen Denkfehlern und den Grundsätzen seiner abscheulichen Mißweisheit so weit, zu behaupten, in dieser so ganz verbrecherischen und verderbten Menschenwelt sei für vollkommene Güte keine Lebensmöglichkeit. Einer hat mal gesagt, wenn die Dreiecke sich einen Gott machten, so würde er drei Seiten haben. So ist auch diese niederträchtige und verderbte Welt eine echte Schöpfung Machiavells.

Ein Redlicher kann immerhin überlegenen Geistes sein, voller Umsicht und Vorsicht, das braucht seiner Herzensreinheit keinen Eintrag zu tun. Seine scharfsinnige Voraussicht ist ihm genug, er erkennt, was seine Feinde im Schilde führen, seine Weisheit, nie Rates verlegen, kann ihm stets die Wege weisen, wie er den Schlingen, die ihre Bosheit ihm legt, entgehe. Was heißt das aber schließlich: unter Schurken nicht vollkommen gut sein? Was sonst als selber ein Schurke sein? Wer sich erst darauf einläßt, „nicht vollkommen gut“ sein zu wollen, der wird zuletzt, nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge, eben ein ganzer Bösewicht; das geht wie beim Donaustrom: der wird auch nicht besser bei seiner Weltreise, in der Schweiz fängt er an, in der Tartarei nimmt er sein Ende.

Man lernt, ich gestehe es, ganz neue und besondere Dinge bei Machiavell: Ehe ich den „Fürsten“ gelesen, war ich dumm und ungebildet genug, nicht zu wissen, daß es Fälle gebe, die einem Ehrenmann erlaubten, ein Schuft zu werden. In meiner Beschränktheit hatte ich keine Ahnung davon, daß Leute wie Catilina, Cartouche, Mir-Weis62-1 die vorbildlichen Gestalten für die Welt seien; vielmehr lebte ich mit der Mehrheit der Menschen der Überzeugung, es komme der Tugend zu, Vorbilder abzugeben, dem Laster, sich gefälligst danach zu richten. Muß ich mich allen Ernstes auf ein Für und Wider einlassen? Gründe allen Ernstes dafür beibringen, daß wirklich Tugend allerhand vor dem Lasier voraus hat, ein gütiges Herz vor schadenfroher Bosheit und Edelsinn vor Verrätertücke? Ich denke, wer nur seinen Verstand beieinander hat, der weiß zur Genüge, was sein Bestes erheischt, um zu fühlen, auf welcher von beiden Seiten er am ehesten seine Rechnung findet, und um einen Menschen zu verabscheuen, der bei dieser Frage garnicht einmal einen Zweifel, ein Schwanken kennt, sondern der sich für das Verbrechen entscheidet!


62-1 Mir-Weis ermordete 1709 den Fürsten von Candahar und bemächtigte sich des Thrones, den er bis zu seinem Tode (1717) innehatte.