<207>

Über die Satirenschreiber
(März 1759)

Werden die Menschen denn nie lernen, die rechte Mittelstraße einzuhalten und mehr der Stimme der Vernunft als dem Taumelder Leidenschaften zu folgen? Sie haben die Neigung, alles zu übertreiben, sie kennen nur das Übermaß. Glühende Einbildungskraft reißt ein erhitztes Hirn weit über das hinaus, was es zu unternehmen gedachte. Es gibt hundert Irrwege. Das hieße mit Plato träumen, verlangte man von den Menschen Vollkommenheit, wo ihr Wesen nur ein Gemisch von Schwächen und Jämmerlichkeiten ist. Trotzdem kann man gewisse Praktiken nicht ohne Entrüstung mit ansehen, und die ganze Menschheit müßte gegen sie aufstehen.

Ich meine zwei Laster, die als Extreme in völligem Gegensatz stehen. Das eine ist die Kriecherei der Schmeichler gegenüber den Großen, die maßlosen, unverdienten Lobhudeleien, die den Empfänger ebenso entehren wie den Spender. Das andere ist jene dreiste, zynische Bosheit der Satirenschreiber, die die Sitten der Großen verzerren und mit ihrem wilden Geschrei auch die Throne nicht verschonen. Jene vergiften die Seele durch einen wohlschmeckenden Trank, diese bohren den Dolch in ein Herz und zerreißen es. Dem Lasier die Farbe der Tugend leihen, menschliche Launen vergöttern, ruchlose Handlungen rechtfertigen, heißt wirklichen Schaden stiften; denn das ermuntert die Menschen, die ein verderblicher Hang beherrscht, in verhängnisvoller Verblendung zu verharren. Lügen und Verleumdungen verbreiten, das Verdienst verdächtigen, die Tugend in Frage stellen und den Ruf von Menschen anschwärzen, weil sie in hoher Stellung sind, heißt ein schreiendes Unrecht begehen und der Bosheit die Krone aufsetzen. Beide allgemeine Seuchen unterscheiden sich dadurch voneinander, daß bei den Schmeichlern gemeiner Eigennutz, bei den Satirenschreibern ein unerschöpflicher Schatz von Mißgunst vorhanden ist. Sie sind wie ein Rost, der sich an die Schoßkinder des Glücks und an das hohe Verdienst großer Talente ansetzt.

Wenn Virgil und Horaz so kriecherisch waren, einem feigen und grausamen Tyrannen zu schmeicheln, so muß ihr Beispiel jeden, der etwas auf seinen guten Ruf hält, vor Nachahmung abschrecken. Wenn Juvenal alle Galle seines ätzenden Spotts über einen Minister wie Sejan207-1, über Ungeheuer wie Nero und Caligula ergoß,<208> so war dieser Schimpf durch ihr schmachvolles Benehmen und ihre maßlose Grausamleiten vollauf verdient. Wo aber sind in unseren Tagen die Ungeheuer, die ihnen gleichen? In den letzten Jahrhunderten zählen wir einen Ludwig XI. und Karl IX. von Frankreich, einen Philipp II. von Spanien, einen Papst Alexander VI. zu denen, die des öffentlichen Hasses wert waren. Mithin hat auch die Geschichte, die der lauteren Wahrheit huldigen und die Tatsachen sorgfältig buchen soll, sie nicht geschont. Sie sind von denen, die uns ihre Regierung geschildert haben, mit denkbar größter Strenge behandelt worden.

In unserem Zeitalter erhalten Beamte, Minister, Günstlinge, ja selbst die Herrscher ungefähr die gleiche Erziehung. Die Sitten haben sich gemildert, der philosophische Geist hat zugenommen und macht täglich neue Fortschritte. Wissenschaften und Künste verbreiten einen Firnis von Bildung und Anstand, der die Gemüter fügsamer und zugänglicher macht. Das Äußere der wohlerzogenen Menschen ist in Europa fast überall das gleiche.

Trifft es auch zu, daß wir weniger hervorragende und außergewöhnliche Geister besitzen, die ihresgleichen weit überlegen sind, als das Altertum, so haben wir wenigstens den Vorzug, daß die höchste Macht nicht in Händen von Ungeheuern an Grausamkeit ist, die die Welt verabscheuen muß. Allerdings tun die Großen nicht so viel Gutes, als sie könnten; die Höflinge haben Leidenschaften, und die Könige Schwächen, aber wenn sie ganz vollkommen wären, so wären sie keine Menschen. Was für ein Wahnwitz ist es also, in Iuvenals Spuren zu treten, wenn es an entsprechenden Gegenständen fehlt, an denen man das elende Talent der Satire üben kann! Gibt es etwas Erbärmlicheres, als berufsmäßig den guten Ruf anzuschwärzen, grobe Verleumdungen zu erfinden, ins Blaue hinein zu lästern, Lärm zu schlagen und Lügen zu verbreiten, nur um seine Bosheit zu befriedigen? Bei solchem blinden Lärm glaubt man schier, die ganze Welt sei in Gefahr. Untersucht man aber die Sache, so ist es nur ein Hund, der den Mond anbellt.

Diese Art von Schwätzern, die die Machthaber mit schamloser Frechheit angreifen, sind größtenteils obskure, elende Wichte. Sie werden zu feilen Söldlingen irgend eines Großen, der einen Nebenbuhler beneidet, oder sie folgen ihrem verderbten Herzen, ihrer verhängnisvollen Neigung, wie tolle Hunde um sich zu beißen, einerlei, wen der Zufall ihnen in den Weg führt. Liest man ihre Machwerke, man möchte glauben, sie hätten an den Höfen besoldete Spione, die ihnen Nachricht von den M. ringsten dortigen Vorgängen geben. Tatsächlich aber füllt ihre Einbildungskraft nur die Läsen ihrer Unwissenheit aus, und die von ihrer Feder Mißhandelten sind ihnen so unbekannt wie die Tugend, die sie so über die Maßen beleidigen. Was ist leichter, als. die Großen zu lästern? Man braucht nur ihre Fehler zu vergröbern, ihre Schwächen zu übertreiben, die üble Nachrede ihrer Feinde breitzutreten, und in Ermanglung solcher schönen Hilfsmittel gibt es ja ein Nepertorium alter Schmähschriften, die man abschreibt und der Zeit, den Personen anpaßt.

<209>

Die Schmähungen gegen die Mächtigen der Erde sind zu Gemeinplätzen geworden. Wie jedes Amt seinen festen öden Kanzleistil besitzt, leidet es unter bestimmten Verleumdungen. Rest man eine Schrift gegen einen Finanzminister, so findet man darin mit Sicherheit, daß er hartherzig, unerbittlich, ein öffentlicher Räuber ist, daß er sich vom Mark der Völker mästet, sie erbarmungslos aussaugt und in seinen Unternehmungen wie ein Blödsinniger verfährt. Ist es ein Kriegsminister, so fallen die Festungen in Trümmer, das Heerwesen wird vernachlässigt, er versagt Ämter willkürlich und verleiht sie nur Günstlingen oder Zudringlichen. Man kann sicher sein, daß ein Staatssekretär seine Arbeit auf seine Beamten abwälzt; sie denken, lenken und arbeiten, während er über die Geschäfte garnicht Bescheid weiß. Er mag tun, was er will, an allem ist etwas zu mäkeln, im Kriege an seinem Ehrgeiz, im Frieden an seiner Schwäche, und für alles, was vorkommt, macht man ihn verantwortlich. Die Herrscher belohnen nie das Verdienst, besonders bei denen nicht, die sich für sehr verdienstvoll halten. Sie gelten oft für geizig, weil sie die Habsucht derer nicht befriedigen, die verschwenden möchten. Ihre Schwächen sind Verbrechen, ihre Fehler—denn wer begeht keine?—sind unerhörte Handlungen. Darauf laufen, von einigen Schattierungen abgesehen, alle die Schmähschriften heraus, die nur ein Echo ebenso alter wie ungerechter Anklagen sind. Doch leider ist es das Los dieser trefflichen Werke, daß sie gelesen werden, solange sie neu sind, um später in ewige Vergessenheit zu sinken.

Dürfte ich den schönen Seelen, die sich derart als Richter ehrbarer Leute aufspielen, einen Rat geben, so wäre es der, der Sache jetzt eine andere Wendung zu geben; denn seit Salomos Tagen ist an Schmähungen und Lobeserhebungen alles gesagt und alles erschöpft. Möchten sie doch versuchen, sich in ihren Schriften selbst zu schildern; möchten sie ihre Verzweiflung über das Wohlergehen der Großen ausdrücken, ihren Haß auf Talente und Verdienste, deren Glanz sie völlig verdunkelt. Möchten sie der Welt eine hohe Vorstellung von ihren Kenntnissen in der Regierungskunst geben. Es gibt noch Wahlreiche; vielleicht machen sie ihr Glück und man glaubt ihnen aufs Wort. Wenigstens würde diese neue Offenherzigkeit ihren Lesern den Verdruß ersparen, andere Roheiten und Frechheiten zu lesen. Wäre das Volk vernünftig, man könnte über die Schmähschriften lachen, welcher Art sie auch wären. Allein diese unwürdigen Machwerke sind ein wirkliches Übel, weil die ungebildete Menge, die eher das Schlechte als das Gute glaubt, begierig schlechte Eindrücke aufnimmt, die sich schwer wieder entwurzeln lassen. Daher kommen dann die Vorurteile, die oft den Monarchen selbst schädlich sind.

Kein Volk hat es mit den Schmähschriften toller getrieben als die Franzosen und Engländer. In diesen Monarchien gibt es keinen bekannten Mann, der nicht vorübergehend mit Kot bespritzt worden ist. Welche Greuel hat man nicht von dem Regenten, dem Herzog von Orleans, veröffentlicht!209-1 Wie hat man selbst einen Ludwig XIV. herabgezerrt!209-2

<210>

Und doch verdiente Ludwig XIV. weder die maßlosen Lobeserhebungen, noch die rohen Schmähungen, mit denen er überhäuft wurde. Er war in krasser Unwissenheit aufgewachsen. Die Vergnügungen seiner ersten Jugend bestanden darin, dem Kardinal Mazarin bei der Messe zu ministrieren. Er war mit gesundem Verstande begabt, besaß Ehrgefühl und mehr Eitelkeit als Ehrgeiz. Er, den man bezichtigte, nach der Weltmonarchie zu streben, war siolzer auf die Unterwerfung des Dogen von Genua als auf die Triumphe seiner Feldherren über die Feinde. Ludwig XIV. be-saß Schwächen. Jedermann kennt seine Neigungen für einige Damen seines Hofes. Man weiß, daß Frau von Maintenon den Sieg über die anderen davontrug, und daß er, um sein Gewissen mit seiner Liebe in Einklang zu bringen, sich heimlich mit ihr vermählte. Darüber erhob sich ein Geschrei und Lärm, als müsse das Königreich untergehen, weil der König ein liebebedürftiges Herz hatte! Während so viele Pamphletschreiber ihn und seine Geliebte herabzerrten, hatte doch jedermann, von seinem Hofstaate bis zu dem kleinsten Schreiber in Paris, und selbst die, die so unanständig gegen ihn schrieben, sein Liebchen! Man machte also dem König ein Verbrechen aus etwas, was man bei dem Geringsten seiner Untertanen nicht mißbilligte. Dergleichen Züge verraten die Leidenschaften des Verfassers. Er schildert, ohne es zu merken, den Haß und die Erbitterung, die ihm selber am Herzen nagen.

Nicht wegen seiner Liebschaften sollte man Ludwig XIV. schelten. Was Tadel verdient, waren die unerhörten Grausamkeiten, die er in der Pfalz verüben ließ, und die an Melac erteilte Vollmacht, einen barbarischen Mordbrennerkrieg zu führen (1689). Auch sein Widerruf des Edikts von Nantes (1685) ist unentschuldbar. Er will die Gewissen knechten, verfährt mit unmenschlicher Härte gegen die Protestanten und beraubt sein Reich einer Unzahl fleißiger Menschen, die ihre Talente und denHaß gegen ihre Verfolger in ihre neuen Zufluchtsstätten mitnehmen. Sehe ich von diesen beiden Flecken ab, die den Glanz seiner langen Negierung verdunkeln, welchen Vorwurf kann man gegen Ludwig XIV. erheben, der die gegen ihn geschriebenen bitterbösen Schmähschriften rechtfertigte? Geziemt es wohl solchen armen Schluckern, deren ganzes Talent in unseliger Schreibfertigkeit besteht, den Thron ihres Herrschers zu besudeln? Kommt es ihnen zu, das Benehmen der Großen zu begeifern, über ihre Schwächen herzufallen und systematisch nach Fehlern an ihnen zu fahnden? Gebührt es Unbekannten, die allen Staatsgeschäften fern stehen, die nur die äußeren Vorgänge sehen, ohne zu wissen, was sie herbeiführt, die nur die Handlungen wahrnehmen, ohne ihre Motive zu kennen, die ihre ganze Staatskunsi aus den Zeitungen lernen — gebührt es ihnen, frage ich, die Herrscher der Welt zu richten? Und kann selbst ihre Unwissenheit ihre Dreistigkeit entschuldigen? Aber die Bosheit verzehrt sie; falscher Ehrgeiz treibt sie an. Sie wollen sich einen Namen machen, und um bekannt zu werden, ahmen sie Herosirat nach.

Wie man gestehen muß, gab es eine Zeit, wo die Satire gang und gäbe war; doch diese gute Zeit ist vorüber. Man mußte unter der Regierung Karls V. oder Franz' I.<211> geboren sein, wo die Monarchen einem Aretin211-1 ihren Tribut zahlten. Sein Schweigen wurde erkauft; die Witze, die er unterdrückte, wurden bezahlt, und sobald ein Fürst glaubte, eine Dummheit begangen zu haben, sandte er ihm Geschenke. Damals konnte man damit reich werden. Aber alles verändert sich. Unser Zeitalter ist griesgrämig geworden; unsere modernen Aretine erhalten statt Belohnung Unterkunft auf Staatskosten von den Herrschern, die sie beleidigt haben, und vor allem untersagt man ihnen die Ausübung ihrer Talente und Fähigkeiten.

Beispiele dieser Art schüchtern freilich solche nicht ein, die mit der Liebe zu so schönem Ruhme geboren sind. Sie gehen auch weniger ermuntert als Aretin ihren Weg, und ihre Begeisterung geht bis zum Martyrium. Um sich Mut zu machen und sich ihre Schlechtigkeit selbst zu verbergen, reden sie sich ein, für das Gemeinwohl zu wirken, die Sitten zu bessern und die Großen durch die Furcht vor ihrem grimmen Tadel in Zaum zu halten. Sie wähnen, ihre Stiche werden verspürt; man muß sie auf die geistreiche Fabel Lafontaines vom Ochsen und der Milbe verweisen211-2. In ihrem hochmütigen, weichlichen Wohlleben vernehmen die Mächtigen das Gesumme dieser Insekten des Parnasses entweder garnicht, oder sie bestrafen sie, sobald sie es hören.

Weder Lästerungen, noch Schmähschriften und Verleumdungen bessern die Men-schen; sie erbittern nur die Gemüter und reizen sie auf. Sie vermögen ihnen wohl den Wunsch nach Rache einzuflößen, nicht aber den, sich zu bessern. Im Gegenteil! Ein ungerechter Vorwurf beweist die Schuldlosigkeit und nährt die Eigenliebe, anstatt sie zu ersticken. Die Großen bleiben, wie sie sind; ein Höfling wird die Gunst seines Herrn nicht minder suchen, weil er in einer Schmähschrift beschimpft worden ist. Ränke sind unvermeidlich an einem Orte, wo viele Menschen zusammenkommen und ein Wettstreit des Ehrgeizes herrscht; sie werden also nach wie vor an den Höfen gesponnen werden, und die Minister werden den Gang der Geschäfte aus dem bisherigen Gesichtspunkt weiter verfolgen.

Die, auf deren Haupt die höchste Macht und Gewalt vereinigt ist, verdienen weit eher Mitleid als Neid. Den Weltbeherrschern entsinkt oft der Mut bei einem mühevollen Werke, dessen Ende nicht abzusehen ist. Unaufhörlich müssen sie mit ihren Gedanken in der Zukunft leben, alles vorhersehen, allem zuvorkommen. Sie sind für die Ereignisse verantwortlich, die der Zufall, menschlicher Klugheit spottend, herbeiführt, um ihre Maßregeln zu durchkreuzen. Sie sind überhäuft mit Geschäften, und die Anstrengungen wirken auf sie schließlich wie ein Schlafmittel, das auf die Dauer alles Streben nach Ruhm abtötet und sie die philosophische Ruhe des Privatlebens herbeisehnen läßt. Es ist viel nötiger, die Liebe zum Ruhme in ihnen zu erwecken, als danach zu trachten, sie zu ersticken. Ermuntern muß man die Menschen, aber nicht abschrecken, und das werden Schmähschriften niemals zustande bringen.

<212>

Vielleicht denkt mancher, man brauche also nur mächtig und unbeschränkt zu sein, um Ich ganz dem Wahnsinn seiner Launen hinzugeben, seinen Willen zum Gesetz zu machen und, da man ja unverletzlich ist, alles mit Füßen zu treten, zumal niemand wagen wird, seine Stimme gegen so unerträgliche Mißbräuche der Macht zu erheben.

Ihnen antworte ich dreist: ich gebe zu, daß alle, die zeitlebens auf der höchsten Stufe der Macht über den Gesetzen stehen, gewiß eines Zügels bedürfen, damit sie ihre Gewalt nicht zur Unterdrückung der Schwachen mißbrauchen oder Ungerechtigkeiten begehen. Aber unwissende und obskure Skribenten sind nicht zu Lehrmeistern der Könige berufen. Da gibt es eine andere Lehrerin, die ihnen wirklich ihre Pflichten zeigt, ihr Urteil spricht und ihnen ungeschminkt sagt, was das Volk von ihnen denkt und denken soll: ich meine die Geschichte. Sie schont keinen der Gefürchteten, vor denen die Erde erzitterte. Sie richtet sie, billigt ihre guten Taten, verdammt die schlechten und belehrt so die Fürsten über alles, was an ihnen einst gelobt und getadelt werden wird.

Das Urteil über die Toten sagt den Lebenden, was sie dereinst zu erwarten haben, und welchen Klang ihr Name in der Nachwelt haben wird. Vor diesem Richterstuhle müssen alle Großen nach ihrem Tode erscheinen; da wird ihr Ruf auf ewig festgestellt. Die Geschichte ersetzt den Brauch der Ägypter, bei denen die verstorbenen Bürger von einem Tribunal abgeurteilt wurden, das über ihr Tun und Lassen richtete und ihnen das Begräbnis versagte, wenn ihre Taten verbrecherisch befunden wurden. Die Nachwelt ist unparteiisch. Sie kennt weder Neid noch Schmeichelei, läßt sich weder durch Lobreden noch durch Schmähschriften verblenden und unterscheidet echtes Gold von schlechter Münze. Die Zeit, die auch die geheimsten Dinge aufdeckt, entschleiert die Handlungen der Menschen und ihre Motive; sie zeigt einen Minister nicht von Höflingen beweihräuchert, einen König nicht von Schmeichlern umringt, sondern den Menschen ohne alle Ausschmückungen und ohne die eitlen Verkleidungen, die ihn verbargen. Wer aber weiß, daß er diesem Gericht nicht entgehen kann, muß sich darauf vorbereiten, ohne Flecken vor ihm zu erscheinen. Der Ruf ist alles, was uns nach dem Tode bleibt; es ist kein Zeichen von Hochmut, um ihn besorgt zu sein; er soll uns vielmehr sehr am Herzen liegen, sofern wir nur etwas edle und hohe Gesinnung besitzen.

Die echte Ruhmesliebe ist die Triebfeder aller Heldentaten und alles Nützlichen, was auf Erden geschieht. Warum ließe sich ein Mensch wohl im Dienste des Vaterlands töten, wenn nicht, um das Lob der Überlebenden zu ernten? Warum mühen sich Schriftsteller und Künstler, wenn nicht, um Beifall zu verdienen, sich einen Namen zu machen und Unsterblichkeit zu erringen? Das trifft in dem Maße zu, daß Cicero212-1, den die gleiche Glut beseelte, bemerkt, daß nicht nur die Schöngeister des Altertums, sondern auch die Philosophen der strengsten Sekten ihren Namen den Werken voransetzen, die von der Eitelkeit alles Irdischen handeln.

<213>

Der Wunsch, sich unsterblich zu machen, ist die Triebfeder unserer Anstrengungen und unserer edelsten Taten. Die Tugend besitzt wohl Reize, und sie kann von schönen Seelen um ihrer selbst willen geliebt werden; das darf uns aber nicht bewegen, das Gute zu verdammen, das des Ruhmes wegen vollbracht wird. Welches auch immer die Triebfeder sei, der Vorteil der Menschheit gebietet, alle Mittel zu benutzen, die zur Besserung des Menschengeschlechts und zur Zähmung des wildesten aller Tiere, Mensch genannt, dienen. Man muß den Sinn für den Ruhm erwecken und anspornen und die Welt unaufhörlich dazu ermuntern. Wehe den Großen, die gegen diesen Stachel unempfindlich sind, wehe aber auch denen, die der beißende Spott der Satire zu sehr verletzt!


207-1 Günstling des Tiberius.

209-1 Vgl. Bd. VII, S. 32.

209-2 Vgl. Bd. VII, S. 267.
     v ' 14

211-1 Vgl. S. 189.

211-2 Eine solche Fabel von Lafontaine gibt es nicht. Vielleicht meint der König die Fabel „Die Mücke und der Ochs“ von Phärus.

212-1 Pro Archia poeta, cap. XI.