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22. An Voltaire1
Über die unbilligen Urteile der Welt über die Staatslenker
(25. Juli 1742)

Wie lange noch, sag' an, wird sich die Leier dein,
Der Ewigkeit geweiht, für Österreich entweihn?
Sag' an, welch falscher Gott ergriff dich statt des wahren?
Als Kämpe frondest du der Tochter der Cäsaren!
Ward denn in diesem Rausche
Die Liebe dir zum Tausche,
Als die Vernunft dahingefahren?

Hört ihr den feilen Schwarm? Gewinnsucht läßt sie schreien.
Schamlose Schwätzer sind's, der Lüge Papageien.2
Dies Hohepriestertum, bestellt von Mammons Gnaden,
Verpestet alle Welt mit seinen Opferfiaden.
Und alle Winde eilen,
Die Düfte zu verteilen,
Mit Lug und Fabeln schwer beladen.

Der Pöbel hängt am Schein. Leichtfertig allezeit,
Schwimmt er im breiten Strom der Oberflächlichkeit.
Im Spiel der Leidenschaft läßt er dahin sich treiben
Und wird sich allemal dem Überschwang verschreiben.
Was gestern hat gegolten,
Wird heute schon gescholten —
Der Tadel aber wird dir bleiben . . .


1 Den Anlaß für die Abfassung der Ode bot dem König ein von Voltaire an Maria Theresia gerichtetes Gedicht über den Krieg von 1741, in dem die gegen sie gebildete Koalition verurteilt und Kardinal Fleury aufgefordert wird, den Frieden herbeizuführen. Die Tendenz der Ode richtet sich gegen Fleury; ihr Zweck ist die Rechtfettigung des am 11. Juni 1742 zu Breslau geschlossenen Sonderfriedens zwischen Österreich und Preußen (vgl. Bd. II, S. 119 ff.; V, S. 170 ff.).

2 Die Zeitungsschreiber, zumal in England, Holland und zum Teil im Reiche, die sich während des Krieges in den Dienst der Gegenpartei gestellt hatten.