<115>„Sieh meine leckern Trauben blau und golden,
„Wer gäb' um deine Kelche meinen Saft?
„Er quillt gepreßt aus meinen vollen Dolden,
„Treibt Sorgen fort und bietet neue Kraft.
„Mein Laub umschmückt, wo Liebesfeste brannten,
„Den Thyrsus und die Stirnen der Bacchanten.
„Dein Blühn vergeht, ich daure allezeit.“

Ein grober Distelstrauch belauschte diesen Streit.
Er hatte breit das ganze Feld bedeckt
Und sprach, den wüsten Busch hoch aufgereckt:
„Nicht hab' ich euren Duft, der Früchte Schatz,
„Doch mein Gewächs gedeiht an jedem Platz,
„Und was ihr tragt an Frucht- und Blütengut,
„Nimmt sich der Mensch als schuldigen Tribut.
„Wir aber fühlen uns in Freiheit reich,
„Und so verachtet meine Distel euch.“

Ja wurzelten sie nicht im Erdenschoß,
Sie schlügen wütend aufeinander los.

Da schwebte leicht in hoher Luft vorbei
Der Aar des Zeus und hörte ihr Geschrei.
„Du wüste Distel,“ rief er, „schweige jetzt,
„Du Schandgewächs, das nur der Esel schätzt!
„Lerne von mir, dich weniger zu adeln,
„Nur der Vollkommne hat das Recht zu tadeln.“
Auch zu den andern fing er an zu reden:
„So hört doch auf mit euern bissigen Fehden!
„Statt so mit bittern Worten euch zu tränten
„Soll jeder an des andern Nutzen denken.
„Jeder füllt seinen Platz, die Rose und der Wein,
„Der Dinge Ordnung schließt sie alle ein.
„Drum laßt nicht überkühn die Wünsche sieigen.“

Ja, die Vollendung ist nur Göttern eigen.
Denn Gut und Böse werden Hand in Hand
Sich immer teilen in dies Erdenland.
Die schöne Welt hat Wüsten dürr und hart;
Der Sommer sengt, in Eis der Winter starrt.