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Sie sagen, man könne weder das Volk noch die Bewohner einer Provinz lieben, die man garnicht kennt. Wenn Sie darunter einen Bund vertrauter Freunde verstehen, so haben Sie recht; es handelt sich hier aber nur um jenes Wohlwollen gegen das Volk, das wir aller Welt schuldig sind und erst recht denen, die mit uns denselben Boden bewohnen und uns beigesellt sind. Und was die Provinzen unsrer Monarchie betrifft — müssen wir gegen sie nicht wenigstens die Pflichten erfüllen, die man Bundesgenossen schuldet? Angenommen, vor Ihren Augen fiele ein Unbekannter in einen Fluß. Würden Sie ihn nicht vor dem Ertrinken retten? Und wenn Sie einem Wandrer begegneten, den ein Mörder erschlagen will, würden Sie ihm nicht zu Hilfe eilen und ihn zu retten versuchen? Das Gefühl des Mitleids ward von der Natur in uns gelegt. Es treibt uns unwillkürlich an, einander beizustehen und die Pflichten gegen unsre Nächsten zu erfüllen. Sind wir also selbst Unbekannten Beistand schuldig, so schließe ich daraus, daß wir ihn erst recht unsren Mitbürgern schulden, mit denen wir durch den Gesellschaftsvertrag verbunden sind. Gestatten Sie mir noch ein Wort über die Provinzen unsrer Monarchie, gegen die Sie mir so lau scheinen. Sehen Sie nicht ein, daß der Verlust dieser Provinzen die Regierung schwächen würde? Also wäre sie, wenn ihr die aus diesen Provinzen gezogenen Hilfsmittel fehlten, weniger als jetzt imstande, Ihnen beizustehen, wenn Sie dessen bedürften. Sie ersehen aus meinen Darlegungen, lieber Freund, daß die staatlichen Beziehungen sehr ausgedehnt sind und daß man nur durch tieferes Eingehen einen rechten Begriff davon erhält.

Aber nun zu einer andern Behauptung, die ich Ihnen nicht hingehen lassen kann. Wie? Ein Mann von Talent und Geist wie Sie wagen zu behaupten, daß das Vegetieren der Pflanzen den Vorzug vor der tierischen Bewegungsfreiheit habe? Ist es möglich, daß ein verständiger Mann schlaffe Ruhe der ehrbaren Arbeit und ein weichliches, weibisches, nutzloses Dasein tugendhaften Handlungen vorzieht, die den Namen dessen, der sie vollbracht hat, unsterblich machen? Jawohl, wir gehen alle unsrem Grabe entgegen, das ist ein allgemeines Gesetz! Aber selbst unter den Toten macht man einen Unterschied. Sind die einen, kaum begraben, schon vergessen und hinterlassen die mit Verbrechen Befleckten ein schmähliches Andenken, so werden die Tugendhaften, die dem Vaterlande nützliche Dienste geleistet haben, mit Lob und Segen überhäuft und der Nachwelt als Vorbilder hingestellt, ja ihr Andenken geht niemals unter. Zu welcher von diesen drei Klassen möchten Sie gehören? Ohne Zweifel zur letzten.

Nachdem ich so viele irrige Schlüsse zerstört habe, dürfen Sie wirklich nicht erwarten, daß Ihr Epikur, obwohl ein Grieche, mir imponiert. Gestatten Sie, daß ich seine eignen Worte erläutere, um ihn gründlich zu widerlegen. „Der Weise soll sich weder in Geschäfte noch in die Regierung mischen.“ Ja, wenn er auf einer wüsten Insel haust. „Seine unempfindliche Seele soll keiner Leidenschaft, weder schlechter Laune noch der Eifersucht noch dem Zorn ausgesetzt sein.“ Das ist also Epikur, der Lehrer