<150> Darum tragen die Tiere den Kopf vornüber, und allein der Mensch trägt ihn aufrecht, um gen Himmel blicken zu können. Wir kennen den Einwand, der Hahn trüge seinen Kopf ebenso hoch wie wir. Das sind schlechte Geschichten, Erfindungen der Ungläubigen, um die offenbarten himmlischen Wahrheiten zu erschüttern, wenn sie es vermöchten. Doch ich wende mich wieder unsrem helligen Text zu. Kehren wir zur Schwester Anna zurück. Sie stellt nach dem mystischen Sinn des Gleichnisses alle Heiligen und Propheten dar, die über unsren Heilsweg und das Erlösungswerk gehandelt haben. Da sie nicht wie ihre Schwester gefehlt hatte, so war sie von der zureichenden Gnade und der wirksamen Gnade nicht verlassen, und darum wohnte ihr der Geist der Weissagung inne. Für und für weilte ihr Denken bei der Wurzel Iesse und dem glorreichen Schicksal des Sohnes Davids, der die Hoffnung der Völker sein wird, bei seiner Erniedrigung und seinen Siegen.

Anna schaut nach allen Seiten aus. Was sieht sie? „Die Sonne, die durch den Staub scheint, und das grünende Gras.“ Das heißt in der heiligen Sprache: „Ich sehe die Sonne vor Lust schwellen. Sie freut sich über die glorreiche Ankunft des Messias. Ich sehe ihre Strahlen den Staub des Irrtums mit der Klarheit des Evangeliums durchdringen. Ich sehe das Gras grünen, oder besser gesagt, sich in die Farbe der Hoffnung kleiden und ungeduldig die Ankunft des Gesalbten erharren.“ Aber das jüdische Volt — die junge Gattin —versieht den mystischen Sinn dieses göttlichen Gleichnisses nicht. Der von den Propheten so oft verkündete Messias kommt nicht so schnell, wie sie es in ihrem jähen Verlangen wünscht.

Sehet, wie unterdessen die Anläufe des Teufels zunehmen. Seine Grausamkeit drängt ihn zur Vollendung seines ruchlosen Werkes. Mit Donnerstimme, den Posaunen von Jericho gleich, schreit Blaubart aus voller Kehle: „Kommen Sie rasch, Madame, oder ich steige hinauf und schlachte Sie ab!“ Was wird sie beginnen? Was vermag sie? Sie bittet um kurzen Aufschub; sie will warten, bis die Stunde des Herrn gekommen ist. Zugleich wiederholt sie mit schwacher Stimme die frommen Worte: „Anna, Schwester Anna, siehst du nichts nahen?“ So seufzte das Häuflein der ftommen Seelen, die Gott sich in seinem auserwählten Volke erhalten hatte, in heiligem Eifer nach der Erlösung. Es fürchtete, der Same Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Elschaddai, Adonai und Elohim diente1, möchte vom Fürsten der Finsternis ausgerottet werden. Anna antwortet ihr nochmals: „Ich sehe die Sonne durch den Staub scheinen und das Gras grünen.“ Ja, Gott hält sein Wort, er verläßt uns nicht! Er stand dem Propheten Elias bei, da die kleinen Knaben ihn verspotteten und ihn Kahlkopf nannten; denn die Knaben wurden von Bären zerrissen2. Er teilte die Wasser des Roten Meeres, damit sein Volk hindurchziehen tonnte. Er wappnete Simsons Hand mit einem Eselskinnbacken, damit er die Philister erschlug. Er wird auch uns nicht verlassen.


1 Namen Gottes, von Luther verdeutscht: Elschaddai als allmächtiger Gott (I. Mose XVII, I), Adonai als Herr (II. Mose VI, Vers 3), Eloah (plur. Elohim) als Gott.

2 II. Könige II, Vers 23f.