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Da eine vormundschaftliche Regierung voranging, wird es Ihrem Hof an Intrigen nicht fehlen. Strafen Sie die Anstifter der ersten strenge; dann wird jeder sich hüten, dem bösen Beispiel zu folgen. Güte am unrechten Ort ist nichts anderes als Schwäche, gleichwie Strenge ohne zwingenden Grund ein schwerer Frevel ist. Das Ausarten nach beiden Richtungen muß vermieden werden, wiewohl es bloß das Gebrechen eines sehr edlen Herzens ist, wenn die Milde ausartet.

Denken Sie nur nicht, das Land Württemberg sei für Sie geschaffen worden! Glauben Sie vielmehr, daß die Vorsehung Sie zur Welt kommen ließ, damit Sie dies Volk glücklich machen. Legen Sie stets mehr Wert auf dessen Wohlfahrt als auf Ihre Zerstreuungen. Wenn Sie, w Ihrem zarten Alter, Ihre Wünsche dem Wohl Ihrer Untertanen aufzuopfern vermögen, so werden Sie nicht nur die Freude, Sie werden auch die Bewunderung der Welt erregen.

Sie sind für Ihr Land das Haupt der bürgerlichen Religion, die aus der Rechtschaffenheit und allen moralischen Tugenden besieht. Zu Ihrer Aufgabe gehört es, daß Sie helfen, diese Tugenden zu verwirklichen und namentlich die Menschlichkeit, die Haupttugend jedes denkenden Wesens.

Die geistliche Religion überlassen Sie dem höchsten Wesen1. Auf diesem Felde sind wir alle blind, durch unterschiedliches Wähnen in die Irre geraten. Wer unter uns ist so verwegen, daß er entscheiden wollte, welcher der rechte Weg sei? Nehmen Sie sich denn in acht vor dem religiösen Fanatismus, der zu Verfolgungen führt. Wenn armselige Sterbliche dem höchsten Wesen irgend Wohlgefallen können, so geschieht es durch Wohltaten, die sie den Mitmenschen erweisen, und nicht durch Gewalttaten, die sie gegen starrköpfige Geister verüben. Wenn die wahre Religion, die Menschlichkeit, Sie nicht zum rechten Verhalten bestimmen sollte, so muß mindestens die Politik es tun; denn all Ihre Untertanen sind Protestanten. Toleranz wird Ihnen Verehrung, Verfolgungen würden nur Abscheu erwecken.

Die Lage Ihres Landes, das an Frankreich und die Staaten des Hauses Österreich grenzt, macht Ihnen eine maßvolle und gleichmäßige Haltung gegen diese zwei mächtigen Nachbaren zur Pflicht. Lassen Sie keinerlei Vorliebe für einen von beiden erkennen, auf daß sie Ihnen nicht Parteilichkeit vorwerfen können. Denn ihre Geschicke sind veränderlich, und beide Staaten würden nicht ermangeln, abwechselnd Sie entgelten zu lassen, was sie glauben, Ihnen mit Grund vorwerfen zu können.

Lassen Sie niemals vom Reich und von seinem Oberhaupt. Eine Sicherheit gegenüber dem Ehrgeiz und der Macht Ihrer Nachbaren gibt es für Sie nur, solange das System des Reiches erhalten bleibt. Seien Sie stets der Feind dessen, der es umstürzen will, denn in Wahrheit hieße das, gleichzeitig auch Ihren Sturz wollen. Mißachten Sie nicht das Haupt des Reichs2 in seinem Unglück und halten Sie zu ihm, solange Sie es können, ohne in sein Mißgeschick verwickelt zu werden.


1 Durch den Übertritt des Herzogs Karl Alexander war das württembergische Fürstenhaus katholisch geworden.

2 Kaiser Karl VII. Vgl. Bd. II, S. 95 f. 106.128.130.139.149.194.