<170>

Schreiben des Grafen R. an einen Freund170-1
(August 1742)

Lieber Freund! Ich gestehe Ihnen, daß der Sonderftiede, den der König von Preußen soeben geschlossen hat, mich nicht minder empört hat als Sie. Ich empfand Unwillen über einen Fürsten, der seine Verpflichtungen so leichtfertig gebrochen hat. Selbst das Benehmen eines Staatsmannes fand ich zu rügen, der seine eigenen Interessen zu verkennen schien, indem er sich mit den Feinden versöhnte, die er am tiefsten verletzt hatte, und sich dadurch die Zuneigung derer verscherzte, denen er die größten Dienste geleistet hatte.

Ich fand dieser Tage Gelegenheit, über das Thema mit einem Manne zu sprechen, der über die gegenwärtigen Verhältnisse offenbar wohl unterrichtet war. Er erzählte mir zu meinem großen Erstaunen Folgendes. Der König von Preußen, sagte er, ist nicht so zu verurteilen, wie Sie meinen. Er hatte zwar Verpflichtungen, aber nur unter gewissen Bedingungen, und Sie wissen, daß an einen Kontrakt, den einer der Kontrahenten nicht erfüllt, der andere nicht mehr gebunden ist. Erfahren Sie denn den ganzen Zusammenhang der Gründe, aus denen der König eine Partei verließ, bei der er keine Sicherheit und Ehre mehr zu finden hatte.

Sein Bündnis zwang ihn nicht zur Stellung einer bestimmten Truppenzahl; es war nur gegenseitige Unterstützung ausgemacht. Der Streit um Schlesien war schon erledigt, als die Händel der Alliierten erst anfingen. Ich übergehe alle Zudringlich leiten der Franzosen, um den König von Preußen zum Handeln zu bewegen. Genug, daß Sie seine hochherzigen Anstrengungen in Mähren kennen, wo er mit 2O 000 Mann seiner Truppen eindrang170-2, um die Österreicher von Bayern abzuziehen, das sie bedrohten.

Die Sachsen traten damals als Hilfstruppen auf, die Preußen aber als Eroberer. Das verleidete diesen einen Zug, den sie lediglich aus hochherziger Gesinnung unternahmen. Gleichwohl blieben sie dieser Gesinnung treu, und Ende April, als die<171> Sachsen sich in ihre Heimat geflüchtet hatten, unterhielt der König von Preußen eine Armee von 60 000 Mann in Schlesien und Böhmen. Die Franzosen hatten versprochen, daß bis dahin alle Verstärkungen zu ihren Truppen stoßen sollten, und daß sie Anfang Mai stark genug zu nachdrücklichen Operationen sein würden. Es fand sich aber, daß diese neuen Truppen und ihre Rekruten Ende Mai noch kaum den Rhein passiert hatten. Die Schwäche der Franzosen, die in Böhmen höchstens 12 000 Mann hatten, und der Rückzug der Sachsen legte die ganze Last des Krieges auf die Schultern des Königs von Preußen. Er trug sie so gutwillig, daß er den Prinzen von Lothringen schlug171-1, als dieser zum Angriff gegen Prag vorrückte. Schließlich aber ward er es müde, allein die ganze Bürde zu tragen, und drängte die anderen zum Handeln. Alles, was er erreichte, war die Aufstellung eines gewaltigen Feldzugsplanes, demzufolge er die Österreicher bei Tabor, dem altberühmten Lager Ziskas, angreifen sollte, um von da bis zur Donau vorzustoßen und Wien zu belagern. Zur Durchführung dieser Operation hätte er ein unbezwingliches Lager angreifen und sechs Wochen durch ein Land marschieren müssen, das keinerlei Nahrungsmittel bot. Während dieser ganzen Zeit hätte die Armee ihren Proviant also auf Wagen mitführen müssen. Bei einiger militärischer Erfahrung sieht man die Unmöglichkeit eines so schlecht erwogenen Planes ein, dessen ganze Last den Preußen und dessen ganzer Gewinn den Franzosen zufiel, die längs der Moldau ohne Schwertstreich bis nach Passau vorrücken sollten.

Trotzdem hätte der König von Preußen nicht die Geduld verloren, wären seine Alliierten zu einer Zeit, wo er allein handelte, nicht völlig untätig geblieben, und hätte er nicht erfahren, daß, während man von ihm selbst einen glänzenden Schlag gegen den Kurfürsten von Hannover und die Holländer verlangte, ein gewisser du Fargis Frankreichs Interessen in Wien vertrat, daß Bussy für Frankreich in England sondierte, und daß man schließlich der Böswilligkeit die Krone aufsetzte, indem man ihn in Rußland verriet, während er sich in Böhmen für Frankreichs Ruhm opferte. In der Tat erfuhr der König, daß La Chétardie den Auftrag hatte, den Frieden zwischen Schweden und Rußland zustande zu bringen, und zwar unter der Bedingung, daß Rußland den Schweden die Eroberung Stettins und seines Gebietes garantierte171-2.

Ein so offenbares Doppelspiel empörte den König von Preußen schließlich, und er beschloß, sich um jeden Preis von seinen Alliierten zu trennen. Von dem Augenblick an arbeitete er ernstlich an der Wiederaussöhnung mit der Königin von Ungarn, und diese gelang ihm durch Vermittlung des Königs von England.

Ich hoffe, schloß mein Politiker, daß Sie nun keine Inkonsequenz mehr im Benehmen des Königs sehen. Er ist einfach dem Gesetz der Natur, dem Selbsterhaltungstrieb gefolgt, der uns gebietet, zuvörderst an unsere eigene Existenz zu denken. Nie<172>mand kann ihn verurteilen, weil er Bundesgenossen verlassen hat, von denen er sich verraten sah.

Das, lieber Freund, sind die Nachrichten, die ich über diese ebenso merkwürdige wie wichtige Tatsache erfuhr. Ich hatte von vornherein angenommen, daß ein aufgeklärter Fürst seine Alliierten nicht ohne Grund verlassen würde, und daß er nicht leichtfertig unsichere neue Bundesgenossen den alten, zuverlässigen vorzöge, daß er seine Freunde nicht zu Dank verpflichten wollte, um sich danach den Anspruch auf ihren Dank zu verscherzen. Allein ich vermochte von mir aus nicht alle Beweggründe zu erraten, die bei einem so plötzlichen und gewaltsamen Entschluß mitsprechen mochten. Jetzt aber, wo ich über die Sache Bescheid weiß, gestehe ich, daß ich das Benehmen des Königs von Preußen nicht nur für gerecht und vernünftig halte, sondern auch meinen Frieden mit ihm mache, wie er Frieden mit der Königin von Ungarn gemacht hat.

Überhaupt sind die großen Fürsten zu beklagen. Etwas in ihrem Benehmen bleibt der Öffentlichkeit stets schleierhaft, etwas in ihren Handlungen zweideutig. Das nimmt dann die Welt gegen sie ein, die schon von Natur eher zu harter als zu milder Beurteilung aller Dinge neigt. Wohl ihnen, wenn gerade und Wahrheitsliebende Seelen sich die Mühe geben, ihre Sache gegen ihre Neider zu verfechten oder gegen solche, deren Eitelkeit und Eigenliebe durch die Vernichtung ihrer verderblichen Pläne verletzt wird. Wahrhaftig, lieber Freund, es ziemt uns ebensowenig, über sie wie über die göttliche Vorsehung zu richten: es wird für Uneingeweihte stets verborgene Tiefen geben. Hat man ohne Kenntnis der Ursachen recht ins Blaue hinein geurteilt, erfährt dann aber den wahren Zusammenhang, so muß man ausrufen: „O, wenn's so steht, Hab' ich nichts weiter zu sagen!“ Ich bin Ihr usw.


170-1 Die obige Flugschrift, deren Spitze sich gegen Frankreich richtet, war bestimmt, den Abschluß des Breslauer Sonderfriedens vom 11. Juni 1742 (vgl. Bd. II, S.119 f.) zu rechtfertigen. Wegen politischer Bedenken unterblieb jedoch ihre Veröffentlichung.

170-2 Angfang 1742 (vgl. Bd. II, S. 105 ff.).

171-1 In der Schlacht bei Chotusitz, 17. Mal 1742 (vgl. Bd. II, S. 114 ff.). -

171-2 Vgl. Bd. II, S. 119.