<196> Rechtskundige nur eine Tugend, eine Moral für alle Menschen gelten läßt, weil die Handlungen an sich gut oder böse sind und die, welche sie vollbringen, ihren Wert und ihre Art nicht verändern. In seinem Buche über das Völkerrecht untersucht er die verschiedenen Gründe zum Kriege bis ins Genauste, wägt alle nach ihrem wahren Werte ab und legt dar, welches die rechtmäßigen und die ungerechten sind. Ich brauche Ihnen diese Stellen wohl nicht auszuschreiben; denn Sie haben ja lange in Deutschland geweilt und sich besonders mit jenem trefflichen Werke befaßt. Es gibt also für alle Menschen nur eine Tugend, eine Gerechtigkeit, deren Vorschriften sich keiner mit Anstand entziehen kann. Hinzu kommt, daß die Herrscher sich doppelt vor Missetaten hüten müßten, weil sie, wenn der Brauch allgemein wird, mehr unter der Wiedervergeltung leiden würden als die Bürger.

Aber, werden Sie fragen, wie kommt es, daß Handlungen, die sich im Grunde gleichen, von der Welt so verschieden aufgefaßt werden? Warum wird Cartouche auf dem Greveplatz gerädert, und warum überhäuft man Ihre Staatsmänner, die nach den gleichen Grundsätzen verfahren, mit Lob? Das kommt von einem lächerlichen Vorurteil, dem zufolge ein Raub ruchlos ist, wogegen Eroberungen ruhmreich sind. Trotzdem ward Cartouche zum Helden eines Epos1, weil er in seinem Gewerbe ohnegleichen war, und wenn Alberoni2 gelobt wurde, so galt das mehr seinem Genie als seinem Charakter. Seine Pläne waren so umfassend, daß unser Kontinent für sie zu klein schien. Sein unruhiger, tatenlustiger Geist brauchte noch andere Welten als die unsere, um sie umzuwälzen. Die Welt lobte seine großen Entwürfe, die sie blendeten, aber niemand hat ihn als Vorbild aufgestellt, und sicherlich fand die Begeisterung, die seine großen Pläne erweckten, ein reichliches Gegengewicht in dem Abscheu, den seine Ehrsucht und sein Charakter einflößten. Nur tugendhafte Taten machen die Menschen unsterblich; das Lob feiler Söldlinge und Modelaunen währen nicht lange; sie teilen das Los mäßiger Statuen, die wohl Ignoranten gefallen mögen, aber neben Meisterwerke gestellt, verblassen.

In dem ungeheuren Flutschwall von Schmeicheleien, mit denen man die MachtHaber jederzeit überschüttet hat, unter den zahllosen übertriebenen Lobsprüchen, mit denen Redner und Dichter in allen Zeitaltern ihre Schirmherren bedachten, findet man nichts dem Worte Vergleichbares, das Cato für alle Zeiten zur Ehre gereicht: „Sind auch die Götter mit Cäsar, Cato folgt dem Pompejus3.“ Offenbar war die Sache des Senats und des berühmten Römers, der sie verfocht, nur insoweit gerecht, als Cato für sie eintrat. Das ist eine Art des Lobes, nach der alle Minister und Machthaber streben sollten; wenigstens wäre es für das Wohl der Menschheit zu wünschen. Um so zu denken, muß man — das werden Sie zugeben — eine glück liche Natur haben, von Liebe zum wahren Ruhm erfüllt sein, muß man Seelenadel und


1 Offenbar ist das Lustspiel „Voleurs et des tours de gueux“ von Legrand und Riccoboni gemeint, in dem Cartouche noch während des Prozesses auf die Bühne gebracht wurde (vgl. Bd. VII, S. 33).

2 Vgl. S. 188.

3 Nach Lucanus, Pharsaliae I, 128.