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9. Denkschrift für England197-1
(29. Oktober 1756)

In der allgemeinen Gärung Europas wird Seine Britische Majestät um Erwägung des gegenwärtigen Standes der Dinge und der Mittel zur Abhilfe ersucht, damit man ohne Zeitverlust handeln und von Beginn des Winters an die nötigen Maßregeln ergreifen kann, um rechtzeitig den wahrscheinlich werdenden Unglücksfällen vorzubeugen.

Die Königin von Ungam hat 90 000 Mann regulärer Truppen in Böhmen, dazu 10 000 Ungarn, 8 000 Mann aus Italien, 16 000 aus Flandern, 4 000 Württemberger, 8 000 Bayern, 2 000 aus dem Bistum Bamberg und 24 000 Franzosen197-2, insgesamt 162 000 Mann. Über Rußland weiß man nichts Bestimmtes, aber nach seinen Erklärungen will es wenigstens 40 000 Mann gegen den König von Preußen ins Feld stellen. Frankreich hat, wie versichert wird, der Königin von Ungarn versprochen, mit 40 000 Mann eine Diversion nach dem Herzogtum Kleve zu machen. Seiner Britischen Majestät wird zu bedenken gegeben, ob er einen Einfall ins Klevesche kalten Blutes mitansehen kann. Die Fortschritte der Franzosen diesseits des Rheines dürften binnen kurzem die Weser und sein eignes Kurfürstentum197-3 bedrohen, und die deutsche Freiheit, die Sache des Protestantismus und das europäische Gleichgewicht würden dadurch aufs äußerste gefährdet.

Preußen kann nichts weiter leisten, als sich gegen soviel Feinde zu wehren. Es muß die Herzogtümer Kleve und Mark dem Zufall der Ereignisse preisgeben. Da es aber nicht genügt, die Diagnose zu stellen, schlägt man zugleich die einzigen Heilmittel vor, mit denen das Übel zu bekämpfen ist:

1. Völlige Loslösung Rußlands vom Wiener Hofe.

2. Die Hauptsache wäre, die Türkei zu einem Einfall in Ungarn zu bringen. Dadurch würde Preußen von mindestens 70 000 Feinden befreit.

3. Zusammenziehung aller hannöverschen Truppen im Lande, ihre Vermehrung auf 30 000 Mann. Das macht mit 10 000 Hessen, 5 000 Braunschweigern, 3 000 Go<198>thaern, die man zu ihnen stoßen läßt198-1, insgesamt 48 000 Mann. Dies Heer würde hinreichen, um den Franzosen die Spitze zu bieten, und wenn der Herzog von Cumberland seine Führung übernähme, würde es erhöhten Glanz erhalten. Die Sache scheint um so leichter durchführbar, als die französische Armee nach ihren großen Detachierungen nicht mehr stark genug wäre, um die englischen Küsten im nächsten Jahre zu beunruhigen.

4. Könnte man nicht einige Nachsicht gegen den Handel der Holländer üben und sie dadurch bestimmen, im nächsten Jahre gemeinsame Sache mit England zu machen, und wäre durch ihre Hilfe nicht mehr zu gewinnen, als die englischen Kaufleute durch das bißchen Schmuggel verlieren, den die Amsterdamer Kaufleute treiben?

5. Könnte man nicht einige Abgeordnete der Provinzen gewinnen, um sich die Oberhand im Staatsrate zu sichern?

Alle diese Punkte werden hier nur gestreift, da die Zeit fehlt, um sich über jeden gebührend auszulassen. Man unterbreitet sie aber alle der höheren Einsicht Seiner Britischen Majestät; denn sie verdienen im Hinblick auf den weiteren Verlauf des gegenwärtigen Krieges sicherlich die größte Beachtung. Ja, man würde sich zeitlebens Vorwürfe machen, wenn man jetzt, wo man den Winter zu Rüstungen benutzen kann, irgend etwas versähe, das den Untergang der deutschen Freiheit, die Vernichtung der protestantischen Sache und den Sturz der beiden einzigen Herrscher nach sich ziehen könnte, die Freiheit und Glauben verteidigen können, ganz abgesehen davon, daß das europäische Gleichgewicht völlig verloren ginge und in Europa der Despotismus der Häuser Bourbon und Österreich aufgerichtet würde, dessen verhängnisvolle Folgen nicht erst erörtert zu werden brauchen.


197-1 Die Denkschrift wurde, gleich den früheren (vgl. S. 161 ff. und 173 f.), der englischen Regierung mitgeteilt.

197-2 Das auf Grund des Versailler Vertrages gestellte Hilfskorps.

197-3 Hannover.

198-1 Vgl. S. 163 f.