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Man wird sich vielleicht wundern, daß die Wissenschaften, die in Frankreich, in England und Italien blühen, in Deutschland nicht den gleichen Glanz entfalten. Die Gründe dafür sind folgende.

Nach Italien gelangten die Wissenschaften aus Griechenland zum zweiten Male, nachdem sie schon am Ende der Republik und in der ersten Kaiserzeit alle gebührende Achtung genossen hatten. Der Boden war also vorbereitet, um sie zu empfangen, und der Schutz der Medici, besonders Leos X., trug viel zu ihren Fortschritten bei.

In England fanden die Wissenschaften leicht Verbreitung, weil die Regierungsform die Mitglieder des Parlaments berechtigt, Reden zu halten. Der Parteigeist selbst trieb zum Studium an. In den Parlamentsreden galt es, alle Regeln der Rhetorik, insbesondere der Dialektik, anzuwenden, um so das Übergewicht über die Gegenpartei zu erlangen. Daher haben die Engländer fast alle klassischen Autoren im Gedächtnis. Sie sind im Griechischen wie im Lateinischen bewandert und besitzen ebenso geschichtliche Kenntnisse. Infolge ihrer finsteren, schweigsamen, hartnäckigen Geistesart haben sie es in der höheren Geometrie weit gebracht.

In Frankreich waren unter Franz I. einige Gelehrte an den Hof gezogen worden. Sie haben gleichsam den Samen des Wissens ausgestreut; aber die folgenden Religionskriege erstickten die aufkeimende Saat, wie ein später Frost die jungen Pflanzen zurückhält. Die Krisis währte bis ans Ende der Regierungszeit Ludwigs XIII., wo der Kardinal Richelieu, später Mazarin und vor allem Ludwig XIV. den Künsten und Wissenschaften glänzenden Schutz gewährten. Die Franzosen waren eifersüchtig auf die Italiener und Spanier, die ihnen auf dieser Bahn zuvorgekommen waren, aber die Natur brachte bei ihnen einige der glänzendsten Geister hervor, die bald ihre Nebenbuhler übertrafen. Die französischen Schriftsteller zeichnen sich besonders durch ihre Technik und durch verfeinerten Geschmack aus.

In Deutschland wurden die Fortschritte in Kunst und Wissenschaft gehemmt durch die Kriege, die von Karl V. bis zum Spanischen Erbfolgekrieg aufeinanderfolgten. Das Volk war elend, die Fürsten arm. Man mußte zuerst daran denken, das Land wiederanzubauen, um sich den unentbehrlichsten Lebensunterhalt zu sichern. Man mußte Manufakturen einführen, um die vorhandenen Rohstoffe zu verwerten. Diese Aufgabe nahm die Nation fast ganz in Anspruch und hinderte sie, sich aus der Barbarei, die ihr noch anhaftete, vollständig zu erheben. Dazu kommt, daß die Künste in Deutschland keinen Mittelpunkt hatten, wie es Rom und Florenz in Italien, Paris in Frankreich und London in England waren. An den Universitäten saßen zwar gelehrte, aber pedantische und schulmeisterliche Professoren; kein Mensch konnte mit diesen ungehobelten Leuten verkehren. Nur zwei Männer ragten durch ihr Genie hervor und machten der Nation Ehre: der große Leibniz und der gelehrte Thomasius. Wolff lasse ich unerwähnt. Er käute Leibnizens System wieder und wiederholte weitschweifig, was jener mit Feuer geschrieben hatte. Die meisten deutschen Gelehrten waren Handwerker, die französischen waren Künstler. Das war der Grund, warum