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15. Epistel an Lord Baltimore49-1
Über die Freiheit
(Oktober 1739)

Der freie Geist, den man in England ehrt,
— In London heimisch, in Berlin ein Schrecken —
Er, der die Weisheit mannesstark bewehrt,
Betrug und Irrtum in den Staub zu strecken —
Der edle Geist, Mylord, der Sie entstammt,
Er ist's, von dem Ihr großer Fortschritt stammt!
Sonst seufzte ja, frei vom Tyrannenjoch,
Im Bann der Vorurteile London noch;
Der Künste Freistatt und der Weisheit Schule
Säh' in entweihten Hallen blöde Toren
Statt Lockes auf dem Philosophenstuhle,
Und Newtons Ruhmgestalt wär' nie geboren.

In Zeiten, deren Größe uns beschämt,
Da sich der Geist unsterblich hochgeschwungen,
Forschte der Denker kühn und unbezähmt,
Bis er zur Wahrheit sich hindurchgerungen.
Hellas, der schönen Künste Mutterschoß,
Das erste Land, darin die Weisheit blühte,
Das tastend noch um Wahrheit sich bemühte,
Zog der Gedanken hehre Freiheit groß.
Sie war es, die den Held, den Redner machte;
In ihrem Schutz errang der Weise Klarheit.
Geist stand in Ehren; jeder Grieche dachte
Und wollte schöpfen aus dem Born der Wahrheit.
<50>Als Macht und Geist dann wurde von Athen
Nach Rom verpflanzt, sah man in Latium
Der großen Männer viel erstehn:
So Cicero, verfolgter Unschuld Hort,
Der die Bedrücker mit dem Donnerwort
Zerschmetterte, er, der in Tuskulum
Den Irrtum niederschlug, in Zweifel stellte
Und prüfend wog, eh' er sein Urteil fällte.
Cato, der unbeugsame Stoiker,
War Cäsars Feind, doch seines Dolches Herr.50-1
Und du, machtvoller Geist, Bezwinger stets
Des Vorurteils, unsterblicher Lukrez,
Dem Wahrheit ihre Fackel anvertraute,
Du, der die Binde frommen Wahns zerriß
Und sich zu Füßen tot den Drachen schaute
Des Schwärmertums, gehüllt in Finsternis —
Ihr dankt es alle, drangt so weit ihr vor,
Der Freiheit, die der Enkel blöd verlor!

Heut kriecht im Staube Rom vor andren Mächten;
Von Kaisern nicht, von Priestern läßt sich's knechten.
Ein dreister Pfaff, bald trotzig, bald verbuhlt,
Besorgt im Vatikan die Glaubenssachen;
Des frommen Bannsirahls Donner läßt er krachen,
Verquickt mit Politik des Himmels Huld.
Die tollste Ehrsucht ist bei ihm zu Haus;
Mit Märchen, Ränkespiel und Höllengraus
Lehrt schlauer Geiz und nackter Eigennutz
Der irrgeführten Welt des Glaubens Pflicht,
Und tut es not, so leiht ein Blutgericht,
Inquisition, ihm seinen Höllenschutz.
Dies schnöde Tribunal verurteilt dreist
Und blöd die Unschuld und verfemt den Geist,
Straft Logik mit dem Feuertod, verbrennt
Den Denker und mit ihm sein Argument.
Doch blind beugt sich Europa und bewundert
Des Papstes Machtspruch; noch ertragen hundert
Völker und Könige sein Regiment...
<51>Geht nach Madrid zur „Glaubensfeier“, seht,
Wie man zur Ehre Gottes Menschen brät!
Hört in Paris das wütende Gezeter
Der Glaubenssireiter, die den Schwarm der Beter,
Die blöde Masse Hetzen auf den Denker!
Der Franken freier Geist, das kühne Wort
Verkommt im Joch der Mönche und der Zänker.
Seht Deutschland: blinde Pfaffen herrschen dort;
Loyola ist ihr Mann und Augustin!
Seht Deutschlands Kaiser vor den Türken fliehn!51-1
Dem Schlachtgott untreu, zu Maria fleht er,
Auf Heilige hofft er und auf Wundertäter.51-2
Jedoch der Diwan spottet sein;
Der Halbmond siegt trotz allem Beten,
Und über Christus stellt er den Propheten.

Doch gaben jene Pfaffen nicht allein
Den Völkern und den Herrschern ihr Gesetz:
Mit weniger Prunk und schönem Schein
Zieht sie der Calvinismus in sein Netz.
In falschen Hüllen, frommer Demut Kleid,
Verbirgt er Hochmut, Ehrsucht, Eitelkeit.
Es wankte Petri Thron, als bäurisch grob
Er einst im Sturm sich wider ihn erhob.
Sein Anhang wuchs; vom Joch der Klerisei
Rang allerorten sich die Menschheit frei.
Verfolgung kam; man trotzte jedem Zwang;
Der Unterdrückten Schrei zum Himmel drang.
Doch die Verfolgten, andren Sinnes bald,
Verfolgten selbst, mißbrauchten die Gewalt;
Von ihren Feinden liehen sie die Waffen,
Um sich in Bruderfehden hinzuraffen.
Zeloten, des Verstandes spottend, wandten
Zu ihrem Vorteil stets, was sie bekannten;
In schwülstigen Phrasen und im Wortgeklaube
Verwirrte sich der Streit, ward trüb der Glaube.
Von jedem Geist, der neue Bahnen bricht,
Befürchten sie nun selbst ein Strafgericht.
<52>So reich ist an Getier und an Insekten
Nicht Afrika, wie sie an neuen Sekten,
Gleich giftgeschwollen und gleich rachbereit,
Gleich morderpicht in ihrem Glaubensstreit!...

Sind das die Christen, die Europa ehrt,
Der Glaube, der uns Lieb' und Eintracht lehrt?
In einem Meer von Blute schwimmt die Welt;
Zur Macht erhebt sich, wer die andren knechtet.
Oft wird dem freien Denker nachgestellt:
Als Atheist wird er verfemt, geächtet...
So wird die Freiheit, die uns angestammt,
In Genf verstoßen und in Rom verdammt;
So wird der Mensch, dem Geist der Himmel schenkt,
Gezüchtigt von der Kirche, weil er denkt...

O Hort der Freiheit, überglücklich Land,
Darin die Kunst, der Geist, die Wahrheit blüht,
O holdes Land, für das mein Herz erglüht,
Wann, England, schau' ich deinen heil'gen Strand?
Du weises Volk, das wachsam stets sich regt,
Jedes Talent und jede Tugend pflegt,
Das alle Künste, jede Leistung ehrt
Und jedem Ruhm gibt, der des Ruhmes wert —
Hellas und Rom sind überholt von dir,
Und deine Weisen, die das Licht entzünden
Im Weltendunkel und Natur ergründen
In Rätseltiefen, sind der Menschheit Zier:
Newton, des Weltalls tiefer Rechengeist,
Der aus des Schöpfers Hand die Hebel reißt,
Verborgne Federn, die im weiten Raum
Dem Menschenwitz entgingen, faßbar kaum;
Der weise Locke, der an des Zweifels Hand,
Stets Schlingen fürchtend, tiefste Wahrheit fand,
Und Sie, Mylord, die Sie mit Geistesgaben
Geburt und Rang geadelt haben,
Sie, die sich kühn dem Wissensdrang vertrauen,
Stets selbst entscheiden, eignen Auges schauen,
Sie, dessen Haus zum Weisheitstempel ward
— O, schwebte das bei uns als Muster vor —
<53>Sie nehmen unsre Herzen mit zur Fahrt,
Und unsre Lust umhüllt ein Trauerflor.

Wann seh' ich dich, mein karges Vaterland,
Dem alten rauhen Ungeschmack entsagen,
Im Busen die verschmähten Künste tragen
Und schirmend schüren ihren heil'gen Brand?
Wann blüht von Geisiesgaben neu dein Sinn,
Der Kunst zum Ruhm, dem Leben zum Gewinn?


49-1 Lord Friedrich Baltimore hatte Ende September 1739 in Rheinsberg zu Besuch geweilt.

50-1 Vgl. weiter unten S. 194 ff.

51-1 Anspielung auf die unglückliche Heerführung der Österreicher im Kriege gegen die Türken (1736 bis 1739). Vgl. Bd. I, S. 158 ff.

51-2 Vgl. Bd. II, S. 22.