Dialog über die Moral
Ein moralischer Katechismus zum Gebrauch für die adlige Jugend
268-1
Frage: Was ist Tugend?
Antwort: Eine glückliche Gemütsanlage, die uns treibt, die Pflichten gegen die Gesellschaft zu unsrem eignen Vorteil zu erfüllen.
Frage: Worin bestehen die Pflichten gegen die Gesellschaft?
Antwort: Im Gehorsam gegen unsre Eltern und in der Dankbarkeit, die wir ihnen für die Mühe schulden, die sie sich mit unsrer Erziehung gegeben haben. Wir sollen ihnen mit allen Kräften beistehen, und wenn sie alt und hinfällig sind, ihnen durch Treue und Zärtlichkeit die Dienste vergelten, die sie uns in unsrer hilflosen Kindheit erwiesen haben. Zu treuer Anhänglichkeit an unsre Geschwister mahnt uns die Natur und das Blut. Gleichen Ursprungs mit ihnen, sind wir durch die unauflöslichsten Bande der Menschheit mit ihnen verknüpft. Als Eltern müssen wir unsre Kinder mit aller möglichen Sorgfalt erziehen und besonders auf ihre Bildung und ihre Sitten achten; denn Tugend und Kenntnisse sind tausendmal mehr wert als alle angehäuften Schätze, die wir ihnen als Erbe hinterlassen könnten. Als Staatsbürger haben wir die Pflicht, die Gesellschaft im ganzen zu achten, alle Menschen als Angehörige einer Gattung anzusehen, sie als Gefährten und Brüder zu betrachten, die uns die Natur gegeben hat, und nur so gegen sie zu handeln, wie wir wünschen, daß sie gegen uns handeln. Als Glieder des Vaterlandes sollen wir alle unsre Talente zu seinem Nutzen verwenden und es ehrlich lieben, da es unsre gemeinsame Mutter ist. Wenn sein Heil es erfordert, sollen wir ihm Gut und Blut opfern.
Frage: Oh, das sind gute und schöne Grundsätze! Nur möchte ich wissen, wie Du diese Pflichten gegen die Gesellschaft mit Deinem eignen Vorteil in Einklang<269> bringst. Fällt die Ehrfurcht und der kindliche Gehorsam gegen Deinen Vater Dir nicht schwer, wenn Du seinem Willen nachkommen mußt?
Antwort: Ohne Zweifel kostet mich das Gehorchen manchmal Überwindung. Aber kann ich je dankbar genug gegen die sein, die mir das Leben geschenkt haben? Und gebietet mir mein eigner Vorteil nicht, meinen Kindern selbst ein Vorbild zu sein, damit sie sich meinem Willen ebenso unterwerfen?
Frage: Gegen Deine Gründe ist nichts einzuwenden, ich sage also nichts mehr über diesen Gegenstand. Wie aber wahrst Du die Einigkeit mit Deinen Geschwistern, wenn Familienangelegenheiten oder Erbschaftsstreitigkeiten Euch entzweien, wie es so häufig vorkommt?
Antwort: Glaubst Du denn, die Bande des Blutes seien so schwach, daß sie nicht gegen vergänglichen Eigennutz standhielten? Hat unser Vater ein Testament gemacht, so geziemt es uns, seinem letzten Willen zu gehorchen. Ist er ohne Testament gestorben, so haben wir zur Schlichtung unsrer Zwistigkeiten die Gesetze. Aus nichts kann mir also bedeutender Schaden erwachsen. Ja, selbst wenn mich wütendster Neid und wildeste Streitsucht befielen, ich müßte doch einsehen, daß ein Prozeß den größten Teil unsres Erbes verschlingen würde. Also vergleiche ich mich lieber in Güte, und unsre Familie wird nicht durch Zwietracht zerrissen.
Frage: Ich will glauben, daß Du verständig genug bist, um nicht selbst Anlaß zu Familienzwist zu geben. Aber das Unrecht kann ja von Deinen Geschwistern kommen. Sie können Dir übel mitspielen, Dich beneiden, in ehrenrühriger Weise von Dir reden, Dir Unannehmlichkeiten bereiten, wohl gar an Deinem Untergang arbeiten. Wie bringst Du dann Deine Pflichtstrenge mit dem Vorteil für Dein Glück in Einklang?
Antwort: Sobald ich die erste Entrüstung über ihr Benehmen bezwungen hätte, würde ich meinen Ruhm darein setzen, lieber der Beleidigte als der Beleidiger zu sein. Dann würde ich mit ihnen reden. Ich würde ihnen sagen, daß ich das Blut meiner Eltern in ihnen achtete und deshalb gegen sie nicht wie gegen erklärte Feinde zu handeln vermöchte. Wohl aber würde ich Vorkehrungen treffen, daß sie mir nicht schaden könnten. Solch hochherziges Verfahren würde sie zur Vernunft bringen. Geschähe das aber nicht, so hätte ich doch den Trost, daß ich mir keine Vorwürfe zu machen brauche; und da mein Benehmen den Beifall aller Verständigen finden muß, so würde ich mich hinreichend belohnt fühlen.
Frage: Was nützt Dir aber diese Großmut?
Antwort: Mir das Kostbarste, was ich aus Erden habe, zu bewahren, einen fleckenlosen Ruf, auf den ich mein ganzes Glück baue.
Frage: Welches Glück kann in der Meinung der Menschen liegen?
<270>Antwort: Nicht auf die Meinung der andren kommt es mir an, sondern auf die unsägliche Befriedigung, die ich fühle, wenn ich einem vernünftigen, menschlichen, wohlwollenden Wesen gleiche.
Frage: Du sagtest vorhin, wenn Du Kinder hättest, würdest Du mehr Sorgfalt darauf verwenden, sie zur Tugend zu erziehen, als Reichtümer für sie anzuhäufen. Warum denkst Du so wenig daran, ihr Glück zu begründen?
Antwort: Weil Reichtümer an sich keinen Wert haben und ihn nur durch ihren rechten Gebrauch erlangen. Bilde ich also die Talente meiner Kinder aus und erziehe sie zur Tugend, so werden sie durch ihre persönlichen Verdienste ihr Glück machen. Wache ich aber nicht über ihre Erziehung und hinterlasse ihnen nichts als Reichtum, so werden sie ihn rasch vergeuden, so groß er auch sei. Überdies wünsche ich, daß meine Kinder wegen ihres Charakters, ihrer Herzensgüte, ihrer Talente und Kenntnisse geschätzt werden, nicht aber wegen ihres Reichtums.
Frage: Das mag für die Gesellschaft sehr nützlich sein, aber welchen Vorteil hast Du davon?
Antwort: Einen sehr großen. Denn bei guter Erziehung werden meine Kinder der Trost meines Alters sein. Sie werden weder meinen Namen noch ihre Vorfahren durch schlechten Wandel entehren, und da sie klug und besonnen sind und Talente besitzen, wird ihnen das Vermögen, das ich ihnen hinterlassen kann, zu anständigem Dasein ausreichen.
Frage: Du glaubst also nicht, daß edle Geburt und berühmte Vorfahren die Nachkommen der Pflicht entheben, selbst etwas zu leisten?
Antwort: Ganz und gar nicht! Das soll sie vielmehr ermutigen, ihre Vorfahren zu übertreffen; denn es gibt nichts Schmachvolleres als ein entartendes Geschlecht. Dann dient der Glanz der Ahnen ja nicht zur Verherrlichung ihrer Nachkommen, sondern er setzt deren eigne Nichtswürdigkeit in um so helleres Licht.
Frage: Ich muß Dich auch um eine Erklärung darüber bitten, was Du von den Pflichten gegen die Gesellschaft behauptetest. Du sagtest, Du dürftest andren das nicht zufügen, was Du nicht willst, daß man Dir tue. Das ist sehr unbestimmt. Ich möchte, daß Du mir auseinandersetzest, was Du darunter verstehst.
Antwort: Das ist nicht schwierig. Ich brauche nur alles durchzugehen, was mich verdrießt und was mir angenehm ist. i. Ich würde mich ärgern, wenn man mir meinen Besitz entrisse; folglich darf ich niemandem das Seine nehmen. 2. Es würde mir unendlichen Schmerz bereiten, wenn man meine Frau verführte; ich darf also das Ehebett eines andren nicht beflecken. 3. Ich verabscheue die Wortbrüchigen und Meineidigen; folglich muß ich mein Wort und meine Eide getreulich halten. 4. Ich hasse die, die mir Übles nachreden; folglich darf ich niemanden ver<271>leumden. 5. Kein Privatmann hat ein Recht auf mein Leben; folglich habe ich auch kein Recht, irgend einem Menschen das seine zu rauben. 6. Wer mir Undank bezeigt, empört mich; wie sollte ich also undankbar gegen meine Wohltäter sein? 7. Wenn ich die Ruhe liebe, werde ich den Frieden der andren nicht stören. 8. Wenn ich mir in meinen Nöten gern helfen lasse, werde auch ich meinen Beistand denen nicht versagen, die mich darum bitten; denn ich kenne das schöne Gefühl, das einen erfüllt, wenn man einer wohltätigen Seele, einem hilfsbereiten Herzen begegnet, das Mitleid mit dem menschlichen Elend hat, den Unglücklichen hilft, sie verteidigt und rettet.
Frage: Ich sehe, daß Du das alles für die Gesellschaft tust; was aber hast Du selber für Vorteil davon?
Antwort: Die süße Genugtuung, so zu sein, wie ich es wünsche, wert, Freunde zu besitzen, würdig der Achtung meiner Mitbürger, würdig meines eignen Beifalls.
Frage: Bringst Du bei einem solchen Verhalten nicht alle Deine Wünsche und Neigungen zum Opfer?
Antwort: Ich halte sie im Zaum, und wenn ich sie unterdrücke, geschieht es zu meinem eignen Nutzen, zur Aufrechterhaltung der Gesetze, die den Schwachen gegen die Angriffe des Starken schützen, zur Wahrung meines Rufes und um den Strafen zu entgehen, die die Gesetze bei Übertretungen androhen.
Frage: Allerdings bestrafen die Gesetze öffentliche Übeltaten. Aber wie viele schlechte Handlungen bleiben in Dunkel gehüllt und entziehen sich dem scharfen Auge der Gerechtigkeit! Warum willst Du nicht zur Zahl jener glücklichen Übeltäter gehören, die im Schatten der Straflosigkeit ihre Frevel genießen? Böte sich Dir also eine heimliche Gelegenheit, Dich zu bereichern, so würdest Du sie vorübergehen lassen?
Antwort: Wenn ich aufrechtmäßige Weise zu Wohlstand kommen kann, würde ich es gewiß nicht verabsäumen. Wäre es aber nur durch unredliche Mittel möglich, so würde ich auf der Stelle darauf verzichten.
Frage: Weshalb?
Antwort: Weil nichts so verborgen ist, daß es nicht an den Tag käme. Früher oder später enthüllt die Zeit doch die Wahrheit. Ich würde unrecht erworbenes Gut nur mit Zittern besitzen und mein Leben in der steten furchtbaren Erwartung des Augenblicks hinbringen, der meine Schande aufdeckte und mich auf ewig vor der Welt entehrte.
Frage: Gleichwohl ist die Moral der großen Welt ziemlich locker. Wieviel Unrecht, wieviel Betrug, wieviel Treulosigkeit würde zutage kommen, wollte man untersuchen, mit welchem Rechte jeder sein Gut besitzt! Ermutigen solche Beispiele Dich nicht zur Nachahmung?
<272>Antwort: Sie könnten mich nur über die Verderbtheit der Menschen traurig stimmen. Aber wie ich weder einem Buckligen noch einem Blinden ähnlich sein möchte, so halte ich es auch für eine unwürdige Erniedrigung einer edlen Seele, sich das Lasier zum Vorbild zu nehmen.
Frage: Trotzdem gibt es unentdeckte Verbrechen.
Antwort: Zugegeben! Aber die Verbrecher sind nicht glücklich. Wie ich Dir schon sagte, werden sie von Furcht vor Entdeckung und von Heftigsten Gewissensbissen gequält. Sie empfinden es tief, daß sie eine betrügerische Rolle spielen und ihre Ruchlosigkeit unter der Maske der Tugend verbergen. Ihr Herz verwirft die falsche Achtung, die ihnen zuteil wird, und sie selbst verdammen sich insgeheim zu der tiefsten Verachtung, die sie verdienen.
Frage: Es ist fraglich, ob Du so dächtest, wenn Du in solcher Lage wärest.
Antwort: Könnte ich die Stimme meines Gewissens und die rächende Reue ersticken? Das Gewissen gleicht einem Spiegel. Wenn unsre Leidenschaften schlafen, zeigt es uns unsre ganze Mißgestalt. Ich sah mich darin unschuldig und soll mich nun schuldbedeckt sehen? Ach! Ich würde in meinen eignen Augen zum Gegenstand des Abscheus werden! Nein, nie werde ich mich aus freien Stücken dieser Erniedrigung, diesem Schmerz, dieser Marter aussetzen!
Frage: Es gibt jedoch Raub und Erpressungen, die der Krieg zu rechtfertigen scheint.
Antwort: Der Krieg ist ein Handwerk für Ehrenmänner, wenn die Bürger ihr Leben im Dienste des Vaterlandes aufs Spiel setzen. Mischt sich aber Eigennutz ein, so artet dies edle Handwerk zu bloßer Räuberei aus.
Frage: Nun, wenn Du auch nicht eigennützig bist, so wirst Du doch zum min, besten Ehrgeiz besitzen, wirst wünschen, emporzukommen und Deinesgleichen zu befehlen.
Antwort: Ich mache einen großen Unterschied zwischen Ehrsucht und Wetteifer. Die Ehrsucht ist oft maßlos und grenzt an das Lasier, aber der Wetteifer ist eine Tugend, nach der man trachten muß. Er treibt uns an, unsre Mitbewerber ohne Neid zu übertreffen, indem wir besser als sie unsre Pflichten erfüllen. Er ist die Seele der schönsten Taten im Kriege und im bürgerlichen Leben. Er wünscht zu glänzen, will aber seine Erhebung nur der Tugend im Verein mit höheren Talenten verdanken.
Frage: Könntest Du aber dadurch zu einer hohen Stellung gelangen, daß Du jemand einen schlechten Dienst erwiesest, würde dieser Weg Dir nicht kürzer erscheinen?
<273>Antwort: Die Stellung könnte meine Begier erregen. Trotzdem möchte ich niemals zum Mörder werden, um sie zu erlangen.
Frage: Was nennst Du, zum Mörder werden?
Antwort: Einen Menschen töten, ist für den Getöteten nicht so schlimm als ihn zu entehren. Gilt es doch gleich, ob man ihn mit der Zunge oder mit dem Dolche meuchelt273-1.
Frage: Du würdest also niemanden verleumden. Dennoch kann es geschehen, daß Du jemanden tötest, ohne ihn zu ermorden. Nicht als ob ich Dir einen kaltblütigen Totschlag zutraute! Aber wenn einer Deiner Standesgenossen Dir seine Feindschaft erklärt und Dich verfolgt, wenn ein Flegel Dich beschimpft und entehrt, kann der Zorn Dich hinreißen und das süße Gefühl der Rache Dich zu einer gewaltsamen Tat treiben.
Antwort: Das sollte nicht geschehen! Aber ich bin ein Mensch, mit lebhaften Leidenschaften begabt. Ich würde sicherlich einen schweren Kampf zu bestehen haben, um die erste Zorneswallung zu unterdrücken; gleichwohl müßte ich sie bezwingen. Privatbeleidigungen zu rächen, ist Sache des Gesetzes; kein einzelner hat ein Recht zur Bestrafung derer, die ihn beschimpfen. Wollte es aber das Unglück, daß die erste Aufwallung die Oberhand über meine Vernunft gewänne, so würde ich es zeitlebens bereuen.
Frage: Wie würdest Du dies Benehmen als Soldat mit dem vereinigen, was die Ehre einem Mann von Stand gebietet? Wie Du weißt, stehen die Ehrengesetze leider in allen Ländern mit den bürgerlichen Gesetzen in schroffem Widerspruch.
Antwort: Ich würde mir ein verständiges, maßvolles Benehmen zur Regel machen, um keinen Anlaß zu Händeln zu geben. Wenn man mich aber ohne meine Schuld reizte, so wäre ich gezwungen, dem Brauche zu folgen, und ich würde mir wegen der Folgen die Hände in Unschuld waschen273-2.
Frage: Da wir gerade vom Ehrgefühl sprechen, so erkläre mir doch, worin cs nach Deiner Meinung besieht.
Antwort: Das Ehrgefühl besieht in der Vermeidung alles dessen, was den Menschen verächtlich machen kann, und in der Pflicht, alle ehrlichen Mittel zu gebrauchen, um seinen guten Ruf zu erhöhen.
Frage: Wodurch wird ein Mensch verächtlich?
Antwort: Durch Genußsucht, Müßiggang, Albernheit, Unwissenheit, schlechte Aufführung, Feigheit und alle Lasier.
Frage: Was verschafft einen guten Ruf?
<274>Antwort: Unbescholtenheit, redliches Betragen, Kenntnisse, Fleiß, Wachsamkeit, Tapferkeit, schöne Taten im Kriege und im bürgerlichen Leben, mit einem Worte alles, was uns über die menschlichen Schwächen erhebt.
Frage: Was die menschlichen Schwächen betrifft, so bist Du jung und in dem Alter, wo die Leidenschaften am Heftigsien sind. Widerstehst Du auch der Habgier, dem maßlosen Ehrgeiz, der Rachsucht, so glaube ich doch, daß Du den Reizen eines bezaubernden Geschlechtes verfallen wirst, das Wunden schlägt, indem es uns verführt, und die vergifteten Pfeile so tief in unser Herz bohrt, daß die Vernunft wankt. Ach, wie beklage ich im voraus den Ehemann, dessen Frau Dich einst zu ihrem Sklaven macht! Wie denkst Du darüber?
Antwort: Ich bin jung und schwach, das gesiehe ich. Doch ich kenne meine Pflichten, und mir scheint, daß ein junger Mensch nicht den Frieden der Familien zu zerstören und keine Gewalt anzuwenden braucht, um seine Leidenschaften zu befriedigen. Er kann es auf harmlosere Art tun.
Frage: Ich versiehe. Du spielst auf die Worte des Porcius Cato an, der einst einen jungen Patrizier von einem Freudenmädchen kommen sah und erfreut ausrief: dann werde er den Frieden keiner Familie stören. Indes bringt auch dies Mittel sonderbare Übelstände mit sich, und Mädchen zu verführen —
Antwort: Ich würde keines verführen; denn ich will niemand betrügen, noch falsche Schwüre leisten. Betrügen ist ehrlos; falsch schwören ein Verbrechen.
Frage: Aber wenn es Dein Vorteil erheischt?
Antwort: Dann stände ja ein Vorteil dem andren entgegen. Denn breche ich mein Wort, so dürfte ich mich nicht beklagen, wenn ein andrer mir das seine bricht, und spiele ich mit Eiden, so könnte ich auch denen nicht trauen, die mir Eide leisten.
Frage: Doch wenn Du Catos Vorschrift befolgst, so setzest Du Dich andren Zufällen aus.
Antwort: Wer sich seinen Leidenschaften überläßt, ist ein verlorener Mensch. Ich habe es mir in allen Dingen zur Lebensregel gemacht: genieße, aber treibe keinen Mißbrauch.
Frage: Das ist sehr verständig. Aber bist Du auch sicher, nie von dieser Regel abzuweichen?
Antwort: Mein Selbsterhaltungstrieb läßt mich über meine Gesundheit wachen. Ich weiß, daß sie durch nichts mehr zerstört wird als durch Ausschweifung. Ich muß also auf meiner Hut sein, um meine Kräfte nicht zu erschöpfen und mir keine leidige Krankheit zuzuziehen, die meine blühende Jugend zerrüttet, mich kraftlos und elend werden läßt. Sonst müßte ich mir ja den grausamen Vorwurf machen, mein eigner<275> Mörder zu sein. Wenn also der Trieb zur Wollust mich fortreißt, hält mich der Selbst, erhaltungstrieb zurück.
Frage: Auf diese Gründe habe ich nichts zu erwidern. Wenn Du aber so streng gegen Dich selbst bist, wirst Du gewiß hart gegen andre sein.
Antwort: Ich bin nicht hart gegen mich, ich bin nur vernünftig. Ich versage mir nur das, was meiner Gesundheit, meinem Rufe, meiner Ehre schädlich ist. Weit entfernt, fühllos zu sein, habe ich tiefes Mitgefühl mit den Leiden meiner Mitmenschen. Aber damit begnüge ich mich nicht. Ich suche ihnen auch beizustehen und ihnen alle Dienste zu leisten, die ich vermag, sei es durch mein Vermögen, wenn sie in Not geraten, sei es durch Rat, wenn sie in Verlegenheit sind, sei es durch Aufdeckung ihrer Unschuld, wenn man sie verleumdet, sei es durch Empfehlung, wenn ich es vermag.
Frage: Wenn Du so viele Almosen gibst, wirst Du Dein Vermögen erschöpfen.
Antwort: Ich gebe meinen Mitteln gemäß. Solch ein Kapital verzinst sich hundertfach durch die lebhafte Freude, die man bei der Rettung eines Unglücklichen empfindet.
Frage: Aber durch Verteidigung der Unterdrückten läuft man mehr Gefahr.
Antwort: Soll ich die verfolgte Unschuld ohne Beistand lassen? Wenn ich die Falschheit einer Anklage kenne und sie beweisen kann, soll ich da die Wahrheit verschweigen, wo ich sie entdecken könnte, und aus Fühllosigkeit oder Schwache gegen alle Pflichten eines Ehrenmannes verstoßen?
Frage: Und doch, wenn man sieht, wie es in der Welt zugeht, ist es nicht immer gut, die Wahrheit zu sagen.
Antwort: Was die Wahrheit verhaßt macht, ist zumeist die schroffe Art, wie man sie sagt. Wird sie aber bescheiden und ohne Aufhebens verkündet, so nimmt man sie nur selten übel. Schließlich fühle ich selbst das Bedürfnis nach Beistand und Schutz; von wem aber könnte ich ähnliche Diensie verlangen, wenn ich sie selbst nicht leiste?
Frage: Wenn man den Menschen dient, erwirbt man sich meistens nur Undank. Was hast Du von Deiner Liebesmühe?
Antwort: Es ist schön, sich Undank zu erwerben, aber nichtswürdig, undankbar zu sein.
Frage: Dankbarkeit ist eine schwere Last, oft eine unerträgliche. Eine Wohltat läßt sich niemals vergelten. Findest Du es nicht hart, sein Lebelang daran zu tragen?
<276>Antwort: Nein; denn diese Erinnerung gemahnt mich immerfort an die edlen Handlungen meiner Freunde. Das Andenken ihres hochherzigen Benehmens ist mir dauernd gegenwärtig; nur für Beleidigungen habe ich ein kurzes Gedächtnis. Es gibt keine Tugend ohne Dankbarkeit; sie ist die Seele der Freundschaft, der holde Trost des Lebens. Sie verknüpft uns mit unsren Eltern, mit dem Vaterlande, mit unsren Wohltätern. Nein, nie werde ich das Land vergessen, in dem ich zur Welt kam, die Brust, an der ich getrunken, den Vater, der mich erzogen, den Weisen, der mich belehrt, die Sprache, die mich verteidigt, den Arm, der mich gestützt hat!
Frage: Die Dienste, die man Dir geleistet, waren Dir sehr nützlich, das gebe ich zu. Doch welcher eigne Vorteil verpflichtet Dich zur Dankbarkeit?
Antwort: Der allergrößte, nämlich der, mir Freunde in der Not zu bewahren und durch meine Dankbarkeit den Beistand wohlwollender Herzen zu verdienen, well kein Mensch der Hilfe entbehren kann und man sich ihrer würdig erweisen muß, endlich, weil ein jeder die Undankbaren verabscheut, weil er sie als Zerstörer der holdesten gesellschaftlichen Bande ansieht, weil sie die Freundschaft zur Gefahr machen und alle, die ihnen HUfe leisten, schädigen, kurz, weil sie Gutes mit Bösem vergelten. Zur Undankbarkeit gehört ein fühlloses, verderbtes, rohes Herz. Wäre ich solcher Schändlichkeit fähig? Soll ich mich des Umgangs mit ehrenwerten Menschen unwürdig machen? Soll ich gegen den geheimen Trieb meines Herzens handeln, der mir zuruft: „Stehe Deinen Wohltätern nicht nach! Vergilt ihnen, wenn Du kannst, hundertfältig die Dienste, die Du von ihrer Großmut empfangen hast!“ Ach, lieber ende der Tod mein Leben, als daß ich es durch solche Schändlichkeit besteckte! Um froh und befriedigt zu leben, muß ich mit mir selber zufrieden sein, muß ich am Abend, wenn ich meine Handlungen überdenke, etwas finden, was meiner Eigenliebe schmeichelt, aber nichts, was sie demütigt. Je mehr Spuren von Gerechtigkeit, Großmut, Edelsinn, Dankbarkeit und Seelengröße ich in mir finde, um so befriedigter bin ich.
Frage: Aber wenn Du Deine Dankbarkeit auf das Vaterland erstreckst, was schuldest Du ihm?
Antwort: Alles; meine schwachen Talente, mein Hab und Gut, meine Liebe, mein Leben.
Frage: Allerdings hat die Liebe zum Vaterland in Griechenland und in Rom die schönsten Taten erzeugt. Durch diesen Grundsatz behauptete Sparta seine Macht, solange Lykurgs Gesetze befolgt wurden. Infolge dieser unerschütterlichen Anhänglichkeit an das Vaterland erzog die römische Republik Bürger, die sie zur Herrscherin der Welt machten. Wie verbindest Du jedoch Deinen Votteil mit dem des Vaterlandes?
<277>Antwort: Ich verbinde beide leicht; denn jede schöne Tat zieht ihren Lohn nach sich. Was ich an eignem Vorteil opfere, gewinne ich an Ruhm wieder. Zudem ist mein Vaterland als gute Mutter selbst verpflichtet, die ihm geleisteten Dienste zu belohnen.
Frage: Worin können solche Dienste bestehen?
Antwort: Sie sind unzählig. Man kann seinem Vaterlande nützen, indem man seine Kinder nach den Grundsätzen des guten Bürgers und Ehrenmannes erzieht, indem man den Ackerbau auf seinen Gütern vervollkommnet, die Rechtspflege billig und unparteiisch übt, die öffentlichen Gelder uneigennützig verwaltet, durch Tugend oder Geist sein Zeitalter zu verherrlichen sucht, indem man aus reinem Ehrgefühl das Waffenhandwerk ergreift, zugunsten der Wachsamkeit und Tatkraft auf träge Weichlichkeit verzichtet, zugunsten des guten Rufes auf den eignen VorteU, zugunsten des Ruhmes auf das Leben, indem man alle Kenntnisse erwirbt, durch die man sich in dieser schweren Kunst auszeichnet, und indem man den Vorteil des Vaterlandes mit Gefahr des eignen Lebens verteidigt. Das sind meine Pflichten.
Frage: Das heißt, sich mit vielen Sorgen und Mühen beladen!
Antwort: Das Vaterland verwirft die unnützen Bürger. Sie sind ihm eine drückende Last. Durch schweigende Übereinkunft muß jedes Mitglied zum Wohle der großen Familie, die der Staat ist, beitragen. Wie man in den Baumpflanzungen die schlechten Zweige wegschneidet, die keine Frucht tragen, so verwirft man auch die Genußsüchtigen und Faullenzer und das ganze, meist verderbte Geschlecht der Müßiggänger, das nur an sich selbst denkt und die Vorteile der Gesellschaft genießt, ohne irgendwie zu ihrem Nutzen beizutragen. Ich für mein Teil möchte, wenn es mir gelänge, weit über meine Pflichten hinausgehen. Ein edler Wetteifer treibt mich zur Nachahmung großer Vorbilder an. Warum schätzest Du mich so gering ein, daß Du mich des Aufschwunges zur Tugend für unfähig hältst, für den andre uns Beispiele geliefert haben? Bin ich nicht mit den gleichen Organen begabt wie sie? Ist mein Herz nicht zu denselben Gefühlen fähig? Soll ich meinem Zeitalter Schande machen und durch feiges Betragen den Argwohn rechtfertigen, daß unser Geschlecht hinter den Tugenden seiner Vorfahren weit zurücksieht? Kurzum, bin ich nicht sterblich? Weiß ich, wann meiner Laufbahn ein Ziel gesetzt ist? Und wenn ich doch sterben muß, ist es da nicht besser, mich im letzten Augenblick mit Ruhm zu bedecken und meinen Namen bis ans Ende der Zeiten zu verewigen, als nach einem müßigen, unbeachteten Leben an Krankheiten hinzusterben, die weit grausamer sind als die Geschosse des Feindes, und das Andenken meiner Person, meiner Handlungen und meines Namens mit mir ins Grab zu nehmen? Ich will es verdienen, daß man mich kenne. Ich will tugendhaft sein, meinem Vaterlande dienen und meinen kleinen Winkel im Tempel des Ruhmes haben.
<278>Frage: Da Du so denkst, wirst Du ihn sicherlich einnehmen. Plato sagt, die letzte Leidenschaft des Weisen sei die Liebe zum Ruhm. Ich bin hocherfreut, so edle Neigungen bei Dir zu finden. Du weißt, das wahre Glück des Menschen liegt in der Tugend. Bewahre Dir diese hohe Gesinnung, und es wird Dir im Leben nicht an Freunden fehlen und nach Deinem Tode nicht an Ruhm.
268-1 Die Schrift wurde für die Académie des Nobles und das Kadettenkorps verfaßt und zugleich mit dem französischen Text in deutscher übersehung von Ramler gedruckt. Der Dialog ist eine Nutzanwendung der Abhandlung „Die Eigenliebe als Moralprinzip“ (vgl. S. 44 ff.).
273-1 Vgl. Band III, S. 120.
273-2 Vgl. dazu S. 37 f.