<67>

10. An meinen Bruder Ferdinand67-1
Wünschen und Wähnen

Ein Mensch, ein Tor! Der Träumer Plato schrieb
Vernunft uns zu — er meint' es allzu gut!
Zum Wechsel spornt uns ein verwünschter Trieb;
Das Dasein ist ein Bild von Wankelmut.
Wir heischen jedes Ding und halten keins,
So werden Wunsch und Wille nie sich eins.
Ich sehe gern der Menschen wahres Wesen:
In ihm kann ich die eignen Fehler lesen.
Das Menschenherz, ein treuer Spiegel, blinkt
Für jeden, der sich sehn will — ungeschminkt.

Einst ging ich disputierend durch die Stadt
Mit Theophil, des Gegenstandes voll.
Ein Menschenhauf, der uns den Weg vertrat,
Geschrei, das rauh aus tausend Kehlen quoll,
Verkündete den Schwarm der Müßiggänger,
Der dort sich staute. Auch uns Grillenfänger
Trieb Neugier, durch die Menge uns zu schlagen:
Kann Torheit doch dem Weisen vieles sagen!
Sich drängend, vor- und rückwärts flutend, riß
Der Strudel uns dahin; wir drangen bis
Ins Herz der schnurrigen Versammlung vor.
Da schwatzte fink und laut ein junger Tor:

„O, käm' es bald in Süden oder Norden,
„Wo, gilt mir gleich, zu Krieg und Menschenmorden;
„Dann würden wir, statt in geringem Stand
„Uns aufzureiben, als Eugens bekannt!“
Zwei junge Offiziere waren's; kaum
Umsproßte Mund und Kinn der erste Flaum.
<68>Allein schon kommt ein neuer Schwarm herbei,
Der uns in dichtem Wirbel weiterdrängt.
Zwanzig und mehr, als ob's 'ne Freude sei,
Schrein durcheinander, keiner hört und denkt.
Doch diese wilde Flut zerfließt im Nu,
Und andre Unbekannte strömen zu.
Ein wandelndes Skelett stößt mich am Arme
Und raunt mir zu: „O, daß sich Gott erbarme!
„Gäb' er mir neue Lungen in die Brust,
„Wohl hundert Jährchen lebt' ich dann mit Lust!“
Der Husten stieg ihm auf, er sprach nicht weiter.

Bald sahn wir Bürgersleut' des Weges wandern;
Ein ältrer Mann, vornehmer als die andern,
Sprach trockenen Tons zu einem der Begleiter:
„Ihr lobt die gute Ordnung meiner Habe,
,Doch glaubt nur nicht, daß ich mich dran erlabe,
„Solang der Himmel mir den Sohn verwehrt,
„Den Erben, den so glühend ich begehrt.
„Die Neffen sähn mich gern schon auf der Bahre:
„Ich häufe Schätze, ach, für Undankbare!“
Da kamen Arm in Arm ein paar Kollegen
Und streckten ihm zum Gruß die Hand entgegen.
Das Stimmgewirr erstickte tausendfach
Mit lautem Lärm, was er zu ihnen sprach.

Nun klangen Lieder, und die Leute lachten,
Und alle, die in Amors Banden schmachten,
Hofierten ihre Schönen, Arm in Arm.
Verträumt ging einer neben diesem Schwarm,
Allein, in ernstem Philosophenschritt,
Rieb sich die Stirn mit finsterer Gebärde
Und starrte schmerzerfüllt zur Erde.
Gerührt, weil er so seufzte und so litt,
Bot ich ihm meinen schwachen Beistand an;
Zu brechen sucht' ich seines Schweigens Bann.
„Ach, möchte Bestushew zum Teufel gehn!“
Stieß er hervor und ließ mich plötzlich stehn.

Auch Theophil riß die Geduld zuletzt.
„Gott! welch ein Volk von Narren!“ rief er jetzt.
<69>„Fort! Gib mir morgen hier ein Stelldichein;
„Der Himmel halt' uns dann das Volk vom Leib
„Und geb' uns Sonnenschein und Zeitvertreib!“
„Sieh wenigstens Dein eignes Unrecht ein;
„Du tadelst““, sprach ich, „all dies Plänemachen;
„Doch statt der andern Schwächen zu verlachen,
„Wär's klüger, Dich von Deinen zu befrein.
„Genießen wir doch heut den schönen Garten,
„'s ist sichrer, als das Morgen abzuwarten.
„Wie bald nagt an der reifen Frucht der Wurm,
„Und auf den schönsten Tag folgt Wettersturm.“

Das, Bruder, ist ein echtes Sittenbild!
Sieh diese Toren, wie sie wahnerfüllt,
Verzehrt von Wünschen, Hirngespinste nähren,
Sich blind erheben über ihre Sphären,
Das Einst betrauern und dem Heute grollen
Und auf die Zukunft baun ihr schwaches Hoffen!
Weit sehen sie des Glückes Tore offen,
In Tagen lebend, die noch kommen sollen,
Und töricht quälen sie mit eitlem Sehnen
Die Himmlischen und mit vermeßnen Plänen.
Erfüllten doch die Götter ihr Begehren —
Ihr Zorn könnt' ihnen Schlimmres nicht bescheren!

Tun wir des Schicksals Tempel ihnen auf!
Sieh dort den unzufriednen Menschenhauf,
Der ewig zwischen Furcht und Hoffnung schwankt
Und stets vom Gott ein beßres Los verlangt!
Doch der versetzt: „Erzittre, Kreatur!
„Umsonst ist's, meinen Ratschluß umzustoßen!
„Blick' in die Zukunft, sieh der Dinge großen
„Zusammenhang, das Räderwerk der Weltenuhr:
„Da beugt sich alles der Notwendigkeit!
„Doch seht, die Zeit und Wahrheit sind bereit,
„Im Fluge jedes Schicksal aufzurollen,
„Das Los zu zeigen, das ich Euch beschieden.
„Doch welch Ereignis in der wechselvollen
„Zukunft stellt Eure Wünsche je zufrieden?
„Entsagt dem eitlen Trachten nach dem Glück;
<70>„Ins Chaos fiele sonst die Welt zurück,
„Die ich durch feste Regeln weise lenke.
„Alles bedacht' ich, kann nichts umgestalten;
„Fügt Euch in Euer Los, das ich Euch schenke:
„Was Ihr Euch wünscht, ist andren vorbehalten.
„Wenn ich nicht fühllos Euren Wünschen bliebe,
„Zuchtruten bänden Euch die eignen Triebe!

„Du junger, vorwitziger Offizier,
„Ein andrer sieht an Deinem Platz: erfahren
„Sollst Du das Ende seiner Kampfbegier!
„Er liebte Krieg und suchte die Gefahren —
„Nun hat des Todes Sichel ihn gemäht!

„Du, dem der Sinn nach Nestors Alter sieht,
„Sieh dort den Greis! Wärst Du so hochbejahrt,
„Dir wär' das gleiche Schicksal aufgespart!
„Ihm macht nichts Lust noch Freude mehr; zuwider
„Ist ihm das Dasein; Alter, Siechtum nagen
„An seinem Lebensmark mit tausend Plagen,
„Und trübe schwelt des Geistes Leuchte nieder.
,Durch lange Qualen führt sein Weg zum Grabe.

„Hör', alter Krösus, mißvergnügter Narr,
„Dem seine Frau den Erben nicht gebar,
„Beim Nachbar sieh den Sohn und sein Gehabe:
„Ein Feigling ist's, entartet, undankbar!

„Du Menschenfeind, den Schrecknisse umnachten,
„Statt Bestushew sieh zwei Minister, dreister,
„Verruchter noch, der Zwietracht Höllengeister!

„O dämpft, Ihr Menschen, Euer hitzig Trachten!
„Stets blauer Himmel, Rosen ohne Dorn,
„Das ziemt Euch nicht, die Ihr am Staube hängt!
„Ich schuld' Euch nichts und Hab' Euch oft beschenkt.
„Für Wohltat fühllos, fürchtet meinen Zorn!“

Sprach's, und bei seiner Stimme Donnerklang
Der Tempel jählings mit dem Gott versank.
Die Pläneschmiede sahn, was ihre Wünsche galten,
Und sprachen demutvoll: „Gott möge walten!“ ...
<71>O weises Wort des alten Kineas
Zum Hitzkopf Pyrrhus, der es rasch vergaß:
„Gib auf das Planen, es ist Rauch und Dunst!
„Genießen lerne: das ist Lebenskunst!“

Ich folge seinem Rat. Uns ist hienieden
Als sichres Gut das Heute nur beschieden.
Die flücht'ge Zeit entführt uns Jahr um Jahr,
Und nimmer kehrt zurück, was einstens war.
Doch unser Geist, ist er so recht verdrossen
Und fällt des Glückes Übermaß ihm schwer,
Bangt vor der dunklen Zukunft um so mehr —
Wohl uns! Der Himmel hat sie uns verschlossen!

Wär' uns vom ersten Lebenstag bewußt,
Was uns dereinst die Vorsehung bestimmt —
Wie mancher Leidbeladne wär' ergrimmt,
Und der, dem Wohlstand winkt, verlör' die Lust;
So kürzten Ekel, Überdruß und Trauer
Verzweiflungsvoll des Lebens Dauer.
Drum laßt uns niemals in die Zukunft dringen:
Der Himmel hat sie weislich uns verborgen!
Nein, laßt uns, statt zu klagen und zu sorgen,
Der Wünsche dreisten Unverstand bezwingen.
Der Himmel möge unser Los gestalten;
Fromm beugen wir uns seinem weisen Walten.


67-1 Vgl. Bd. VII, S. 278 und 289.