<54>

9. An Maupertuis54-1
Die Vorsehung fragt nicht nach dem Einzelwesen, nur nach der Gattung

Nein, Maupertuis, ein hochgestimmter Denker,
Wie Ihr es seid, der kann den Wahn nicht hegen,
Als wäre Gott, dem großen Weltenlenker,
An jedem nichtigen Einzelding gelegen!
Die ewige Weisheit sollte sich befassen
Mit unserm bißchen Freud und Leid?
Wie käm' sie dazu, sich herabzulassen
Zu unsrer Winzigkeit?
Ach, dieses Einzelwesen, dies Ich,
Wie dürft' es im Ernst wohl vermessentlich
Mit seinen Nöten und Nötchen allen
Dem Weltengeiste beschwerlich fallen?
Der aller Dinge erste Ursach war,
Den alten Stoff in feste Formen bannte;
Der Urbeweger gab, der Unbekannte,
Den Wesen ihr Gesetz unwandelbar:
Da strebt zu einem Punkt hin alle Schwere,
Die Flamme steigt im Luftraum lodernd auf,
Das Wasser fällt, lenkt nie zurück den Lauf,
Nichts lebt, das frei von Artbegrenzung wäre.
Aus einem Reis von Apfelbaum wächst immer
Ein Apfel nur, doch eine Rose nimmer.
Und keiner eine Wirkung denken kann,
Die nicht der Ursach sklavisch Untertan.
<55>So ward dem Menschen auch in dieses Leben
Sein Unveräußerliches mitgegeben:
Der Leidenschaften Wiegenangebind,
Die fortan Herren seines Innern sind,
Sein Herz bewegen und sein Tun bestimmen.
Ihr Herrscherwalten zeigt sich in der Tat,
In Wirkungen, mehr oder minder schlimmen:
Haß, unversöhnlicher, gebiert Verrat;
Die Liebe mischt in ihre Süßigkeiten
Ihr grimmes Gift, lockt uns in irre Weiten,
Sobald sie die Vernunft geködert hat;
Unruhvoll, stets voll Arg und Eifersucht,
Tränkt sie uns Tollheit oder Schwermut ein;
Der Zorn ist jäh, ist blind; er hetzt allein
Die Sterblichen zu Taten, ganz verrucht.
Wir alle sind gezeichnet mit dem Male
Der oder jener Leidenschaftlichkeit.
Ihr seht: Notwendig seid ihr, wie ihr seid!
Lacht auch ein Demokrit in jedem Falle,
Ein Heraklit weiß nur vom Daseinsleid.
Der da ist hart — warum? Weil seine Galle
Ihn also will; ein andrer schnell gerührt —
Warum? Weil er zu bald sein Herz verspürt.

Gott schuf die Mächte unsres Innern. Wer
Ahnt die Gesetze des Wohin, Woher?
Ihre Verteilung auf der Menschheit Weiten?
Und mit den seelischen Verschiedenheiten
Gestalten die Geschicke sich verschieden;
So wird das Leben bunt und reich hienieden,
So kann das Weltenschauspiel nie veralten
Und muß sich immer wieder neu gestalten.

Doch das allmächt'ge Wesen ftagt nicht viel,
Welch eine Rolle ich hier unten spiel',
Noch welches Schicksal etwa meiner harrt:
Was zum bewegenden Gesetz mir ward,
Das trägt mich sott; mein Dasein ist ein Fließen
Stromab, stromab. Wenn Gott aus Weltenhöhn
<56>Sich mal herabläßt, erdenwärts zu sehn,
Sieht er den Schierling bei der Rose sprießen:
Gleichmütig bleibt sein Blick! Das Große nur,
Das ist sein Werk; in Unermeßlichkeiten
Sucht seiner Weltenhoheit Riesenspur!
In Plänen nur, die ganze Ewigkeiten
Vordenkend und umfassend überspreiten,
Lebt er, auswirkend seine Göttlichkeit.
Doch was das dumme Völkchen drunten schreit,
Dafür hat er lein Ohr, denn ihn bewegen
Nicht Sorgen, er ist nie um Rat verlegen
Und weiß von keiner Mühsal, Pein und Not.
Er weiß, er braucht sich fürder nicht zu regen:
In seiner Schöpfung waltet sein Gebot,
Lebt das Gesetz, das er ihr auferlegt.
Gehorsam läuft nun alles, unentwegt;
Und jede Kraft, die er dem All geliehn,
Die wahrt's in treuer Hut, auch ohne ihn.

So setzt ein Meister, der ein Uhrwerk baut,
Die Federn ein, jede an ihre Stelle,
Bestimmt genau des Umlaufs Maß und Schnelle —
Gehorsam läuft es nun, und er vertraut,
Es werde, ohne daß er's überwacht,
Im Gange bleiben, ganz wie er's gedacht.
So läßt auch Gott, nachdem vor aller Zeit
Er einmal zu beständiger Wirksamkeit
Urkräfte eingesetzt, die ersten, alten
Ursachen noch im Weltgeschehen walten.
Der Wirkung sicher, läßt er allen Dingen
Geruhig ihren Lauf, ganz einerlei,
Ob's uns zum Fluche oder Segen sei;
Dient alles doch nur seinem Plan dabei,
Dem großen Weltplan, und der muß gelingen!
Nein, was die ew'ge Weisheit wollte,
Da sie dem Stoffe dieser Erde
Gesetze gab, das galt allein
Der Art, daß die erhalten werde,
Indem sie stets sich neu ergänzen sollte,
<57>Was sie im einzelnen auch büße ein.
Da füllt das Heute gleich die Lücken
Des Gestern aus, sowie auch wir
An unsrer Väter Stelle rücken;
Seht, so vermehrt sich im Luftrevier
Das Raubzeug ständig, so fördert der Rhein
Seine Wassermengen ins Meer hinein;
So wachsen Waldungen allerenden,
Ein Sprossen, ein Grünen, ein Blühn und Gedeihn,
Jedes Samenkorn will erschlossen sein,
Welch fruchtbares Sichselbstverschwenden!
Auch was vergeht, zu Boden fällt,
Hilft mit, zu erneuen das Bild der Welt.
Doch alle Fruchtbarkeit, sie schafft,
Alle im Innern treibende Kraft,
Immer nur eine Gattung und Art,
Die treu die eigenen Grenzen wahrt.

Begreift es denn, daß die Natur
Ein Herz hat für die Gattung nur!
Da sorgt sie getreulich und unverdrossen,
Daß siugs jede Lücke werde geschlossen.
Und ihre Fruchtbarkeit erhält
Nicht nur lebendig den Bestand der Welt:
Geburtenfülle übergroß
Verströmt ihr unerschöpflicher Schoß!
Sie weiß, aus einer Eichel kann einmal
Ein Eichbaum aufgehn, im besten Fall;
Doch ist sie für die vielen tausend blind,
Die da versprengt von Wetter und von Wind,
Am Raine, auf den Feldern überall,
Ohne zu keimen je, verrottet sind.
Wenn in Wolkenbrüchen und Regenguß
Hier die Hoffnung des Sommers verderben muß,
Was tut's? Es wächst wo anders ja
Inzwischen der Segen im Überfluß.
Was geht's die Natur an, daß Afrika
Von jeher die Märkte Frankreichs versah,
Daß Deutschlands Ähren
<58>Die Briten nähren?
Uns mag das freilich wichtig sein,
Vor ihrem Blick ist's nichtig, klein;
Die Welt, die große, grämt's keinen Deut,
Die läuft ihren Weg, wie gestern so heut.

Seht, wenn der Lenz des Eises Fesseln sprengt,
Dann überschwillt in unsern nordischen Bächen
Der Flutenschwall, der her von Sachsen drängt,
Und unsre Weiden, unsre Wiesenflächen
Der Elbsirom ganz in Schlamm und Tang ertränkt.
Dann kennt der stolze Fluß sein Bett nicht mehr,
Seine Flut überquer
Springt flüchtend über ein Ufer her:
Sie fragt nicht, wem der Boden dort,
Hüben und drüben, zu eigen mag sein,
Ob euer, ob mein,
Da spült sie an, dort reißt sie fort.
So kann's für das große Ganze des Alls
Verluste nie geben,
Doch wird der Ewige keinesfalls
Herab sich lassen zum Einzelleben.
Er lacht des Menschen, eitelkeitbefangen,
Dem nur sein liebes Ich was gilt,
Der, wenn sein Leben nicht nach Wunsch gegangen,
Dummdreist aufs höchste Wesen schilt.
Was möchtet ihr zum Maulwurf sagen,
Wollt' es der stockblinde Wühler wagen,
In seinem Schacht über Berlin
Und seine Schlösser herzuziehn?
Der mit der Nase in der Krume steckt,
Nicht ahnt, wie weit solch Prachtbau sich erstreckt!
Der Maulwurf ist der Mensch, Freund Maupertuis:
Eng, wie die Welt um jenes kleine Vieh,
Ist ihm der Sinne, des Erkennens Reich;
Falsch ist sein Urteil, und Irrlichtern gleich,
Was ihm an Licht mag aufgehn. Stein und Bein
Klagt hier ein Landmann: in sein Tal hinein,
Auf seine Feldflur strömt ein Wässerlein,
<59>Ein schlammgetrübtes; und nun klagt er drum
Die Götter an! Ei, kennt er ihr Warum?
Das dürre Moor, das seine Herden weidet,
Dankt seinen Blütenteppich, der es kleidet,
Dem Bach, dem nützlichen; auf Schlängelwegen
Zieht einem Strom er dann entgegen,
Durch dessen Mündung sein flutendes Leben
Dem Meere zu geben.

So unfrei ist der menschliche Gedanke,
So schief, so schielend ist des Menschen Blick:
Was er erkennt, das ist sein Mißgeschick;
Doch ob nicht jenseits seiner Daseinsschranke
Der größren Welt sein Leid zugut gekommen,
Das hat sein enger Sinn nie wahrgenommen!
Verschwindend Stäublein! Würmlein du,
Was klagst du über Unrecht immerzu?
Was schuldet die Natur dir? Hat sie, sprich,
Versprochen dir, den Gang der Welt zu stören
Nur dir zuliebe, lediglich, um dich
Mit allen Mühn und Sorgen, allem Schweren
Hübsch zu verschonen? Laß dich nicht betören
Von deiner Hoffart, die dich elend macht!
Erstick' den Stolz, und denk, o Menschenkind,
Ans Märlein von der Milbe und dem Rind.59-1
Was zählt im Riesenhaushalt, gotterdacht,
Im Haushalt einer Welt,
Ein Menschlein wohl? Kaum, daß ein Staat da zählt!
Ein Reich — was ist ein Reich? Ein Nichts, das kaum
Noch wahrnehmbar im ungeheuren Raum,
Im schattentiefen, wo die unzählbaren
Weltkörper sich um ihre Sonnen scharen,
Welten von höherer Art als unsre hier,
Zum mindesten doch ebenbürtig ihr!

Prüft die Geschichte aller großen Reiche —
Stets ist's das gleiche:
<60>Heut Ruhm und Größe, morgen alles hin!
Hellas, so stolz in seinem Freiheitssinn,
Die Sklavin Roms! Die Herrscherin der Meere,
Der reichen Ernten all in Afrika,
Da sank sie hin, zerstört durch Scipios Heere,
Hinweggetilgt, eh' sich's ein Mensch versah!
Rom wiederum: von Hunnen und von Goten
In Schutt gelegt! Dort ganze Länderstrecken
In Überschwemmungsnot! Dort allen Schrecken
Der Atropos geweiht, erfüllt von Toten
Die Stadt Marseille!60-1 Von wilden Völkerscharen
Manch mächt'ger Staat, manch ragender Koloß
Im Grund erschüttert! Wie mit einem Stoß
Von heut auf morgen sie zu fällen waren,
Sie alle haben's wehevoll erfahren!

Ihr seht, zu uns läßt sich kein Gott herab,
Mit uns gibt seine Weisheit sich nicht ab,
Er bleibt gelassen, bleibt empfindungslos;
Wenn blut'ge Schläge unsre Welt zerreißen,
Sieht er die große Daseinseinheit bloß;
Was will darinnen dieses Krümchen heißen,
Das ganz im Unermeßlichen verschwindet?
's ist eine Wahrheit, die das Menschenherz
In seiner Eitelkeit nicht leicht verwindet,
Und doch, wir sehn sie allerwärts
Nur allzu offenbar, zu wohl begründet!

Wenn Hundstagsglut die Ernten uns versengt,
Die ehrnen Himmel, taub für Flehn und Klagen,
Sogar die karge Labe uns versagen,
Mit der der Morgentau die Felder tränkt,
Dann sieht der Staat wohl Tagen schwerer Not
Zagend entgegen, bald gebricht's an Brot,
Hunger und Darben, Elend fahl und bleich,
Graun und Verzweiflung und der grimme Tod
Verheeren schauervoll das ganze Reich.
<61>Ließ' Gott sich unser Schicksal nahe gehn,
Als Hüter, Wächter — wär' es zu versteht!,
Daß er die Hand je könnte reichen
Zu solchem Jammer ohnegleichen?
Wär's denkbar, daß er in guter Ruh
Dem Weltflug des Dämons schaute zu,
Der Mord, Verwüstung, Waffenklang
Von Aufgang trägt gen Niedergang?
All diese Greul! All diese Wut!
Die Felder verwüstet, unschuldig Blut
Sinnlos vergossen; ach, und dann
Das blutige Ringen von tausend Fechtern,
Und die Vernichtung von ganzen Geschlechtern —
Ihn ficht's nicht an.
Mit gutem Grund! Denn sichtbarlich
Trotz all dem Graus, den Schicksalsplagen,
Damit die Menschheit stets geschlagen.
Sieghaft behauptet die Gattung sich!

Wie schleunig erfuhr doch ein König das,
Mit seinem hochweisen Ausrottungserlaß,
Wider die räuberische Spatzenbrut!61-1
Wenn sie im Ernst auch etwas litt —
Mit ihrer Fruchtbarkeit kommt keiner mit!
So kreist auch immerdar ein frisches Blut
Beim lieben Vieh in unsrer Fron und Hut:
Ob unsre Gier von seinem Fleisch sich nährt,
Es stirbt so schnell nicht hin, wie sich's vermehrt!
Das Beispiel jener Seuche liegt mir eben
Nur allzu nah, die uns von Trift und Pflug
Das Rindvieh rafft!61-2 Die Weiden ohne Leben!
Ein grimmes Sterben unsre Herden schlug,
Als tat ein würgend Schwert darüber schweben;
Und keine Menschenkunst, die helfen mag!
Die Felder unbestellt und ohn' Ertrag,
Der Landmann grübelt trost- und hoffnungslos
<62>Und faltet dumpf die Hände in dem Schoß.
In Frankreich, der Bretagne, den deutschen Gauen,
So weit sie sind, in Preußen und dem Norden,
Im kalten Skythenland ist man mit Grauen
Des gleichen schweren Unheils inne worden;
Und doch! Des Todes Wüten ist vergebens:
Noch sind ja hier und da so manche Herden
Verschont geblieben, die voll jungen Lebens
Bald den Verlust ersetzen werden.

Doch diese Heimsuchung und Plage
Sie mahnt mich an die Schreckenstage,
Da unser preußisch Heimatland
Einst unter der Geißel der Seuche62-1 stand.
Ach, wie der Heimat Jammer doch
Ins Herz mir schneidet heute noch!
Der Würger, keinen nahm er aus,
Hoch und gering das Elend einte;
Das ganze Land ein Trauerhaus,
Das nur um seine Kinder weinte!
Jäh fiel der Pesthauch die Menschen an,
Wen die Ansteckung faßte, um den war's getan;
Gluthitze befiel ihre Glieder urplötzlich,
Und Atemnot, und ein Durst ganz entsetzlich;
Sie tranken und tranken! Aber ehr
Tranken sie all unsre Flüsse leer,
Eh' diesen Höllendurst sie gestillt.
Das war wie eines Schmelzofens Glut,
Darein man vergeblich Wasser tut:
Nur neue Bluten brannten wild
Im Eingeweide der Gequälten.
Ach, ihre Wangen fahl und weiß,
Der Glanz der Augen fieberheiß
Genug von ihrer Todespein erzählten.
Wie ausgedörrt die Kehle und der Schlund,
Die Zunge wie ein Knebel lag im Mund;
Zitternde Arme streckte mancher da
<63>Dem Nachbar nach, sein Herz doch zu erweichen —
Ja, wer da helfen könnte! Ach, man sah
Auf jeder Stirn ja schon des Todes Zeichen.
Zum schlimmen Ende unter tausend Qualen,
Erlitten sie's, schon halbe Leichen,
Daß sich ihr armer Leib mit gift'gen Malen
Und Flecken ganz bedeckte; und die Beulen,
Die brachen auf, ein schwarzes Gift entfloß,
Sie starben mit verzweiflungswildem Heulen!

Der Fluch der Iammerzeit, er war zu groß:
Da gab's nicht Nisus mehr und nicht Orest,63-1
Kein Liebesband hielt in den Schrecken fest.
Bericht' ich's erst, wie Freundestreue nicht
Standhalten mochte noch Verwandtenpflicht?
O Schuld und Schmach! In feiger, toller Flucht
Ein jeder nur sich selbst zu retten sucht
Und läßt die Pestverfallnen ihrer Pein,
Daß ohne Trost sie starben ganz allein!

Zuletzt, was allen Jammer überbot,
Schien mit dem Ausbruch einer Hungersnot
Das Maß des Menschenleids erfüllt zu sein!
Was damals sich für Schreckensbilder boten,
Erwartet ihr, daß ich's euch erst beschreibe?
Plätze und Häuser vollgehäuft von Toten,
Ein Bruder, der auf seines Bruders Leibe
Elend verröchelt; auf des Vaters Leiche
Der Sohn geschleudert, der entseelte, bleiche.
Dies Wehgeschrei, das Schluchzen allerenden,
Das auf zum Himmel steht, die Not zu wenden.
Dort hangt ein Säugling an der Mutter Brüsten,
Tod saugt er ein: das Weib, noch im Erblassen,
Will doch, von Gott und aller Welt verlassen,
Im Sterben noch des Kindes Leben fristen!
Die unbegrabnen Toten stellt euch vor!
Pesibrodem stieg da tausendfach empor,
Ansteckung wirkend, sicher und sofort.
<64>Nichts, nichts als Jammerbilder sah man dort:
Mit düstren Trauerfackeln, wehndem Flor
Wird hier ein ganz Geschlecht zu Grab geleitet;
Und all die Trauernden, die diesen
Die letzte Liebe heut erwiesen,
Wer weiß, wer weiß, ob nicht zur Stunde
Im gleichen kühlen Friedhofsgrunde
Ihr eigen Grab so gut wie schon bereitet?
Scheut auch der Fuß vor den gehäuften Leichen,
Allüberall die gleichen Schreckenszeichen!
Wohin nur fliehen! Wohinaus sich retten!
Denn dort wie hier, allüberall bedroht
Das Auge der Tod,
Entheiligt selbst der Andacht Weihestätten,
Als müßte einem Gräberfelde gleichen
Die unglücksel'ge Königsstadt! 64-1
Kein Zweifel mehr: die Pest, sie hat
Vernichtung den preußischen Landen geschworen.
Sie hatten vom alten Stamm ihrer Bürger
Durch den wütenden Würger
Bereits so grausam viele verloren,
Daß schier das ganze Preußenland
Eine Einöde worden, ein wüster Strand.

Vielleicht, daß die Seuche dann müde geworden
Von all dem Morden;
Vielleicht, daß des Giftes tückische Kraft
Mählich doch sich erschöpft, erschlafft:
Genug, als das Unheil sein Ende gefunden,
Begann das arme Preußenland
Unter Friedrich Wilhelms gesegneter Hand
Neu zu gesunden.
Was von den Bürgern der Gefahr —
Ach, wenig genug! — entronnen war,
Das holte im allgemeinen Gedeihn
Wundersam schnell das Verlorene ein.
Mutter Natur, der wir leid getan,
Nahm sich auf ihre Art unser an:
<65>Die Menschen nennen's Liebe und Frein!
Ja, Liebe! Und wenn Preußen heut
Sich neuen Menschenreichtums erfreut,
Der Liebe gebührt der Dank allein.
Nichts mahnt uns in jenen Staaten mehr,
In ihrem Gedeihen und Segen,
Wie einst des Todes Hand so schwer
Auf Volt und Land gelegen.

Gesteht: wenn diese Leiden unerhört
Die Ordnung irgendwie der Welt gestört,
Wär's denkbar wohl, daß der Allmächt'ge dann
Nicht Einhalt hätte zur Zeit getan?
Nein, was als schwerstes der Geschicke,
Als ein Verhängnis uns erscheint,
Es ist ein Nichts vor jenem Blicke,
Dem alles sich zum Ganzen eint.
Und doch, und doch! Trotz alledem:
Wie bitter auch und unbequem
Uns allen diese Wahrheit ist —
Dem Menschen tut die Freude not
Wie's liebe Brot;
Und darum sag/ ich: Lebt nur und genießt!
Wem nach Erkenntnis steht der Sinn,
Dem dient ja alles zum Gewinn:
Ihm wird zur Lehre just das Weh,
Daß er des Glückes Wert und Sinn
Erst recht ermesse und versteh'.
Bedenkt er, welchen Wechselfällen
Ihn wehrlos preisgibt die Natur,
So hält er's eben an sonnenhellen,
Gedeihlichen Tagen mit Epikur;
In Stunden, schwarz und unheilschwer,
Glaubt er an Meister Zeno mehr;
Sein Geist, was ihm auch widerfährt,
Ist stets gewappnet und bewehrt.

Das ist es, was uns bleibt: wir wolln in Schweigen
Uns ehrfurchtsvoll vor den Gesetzen neigen,
Wie sie die Vorsehung der Schöpfung gab;
<66>Doch lassen wir von all dem Irrwahn ab,
Der der Beschränktheit unsres Geistes eigen.
Nur Vorwitz von so tiefen Dingen spricht:
„So ist's“ — und wiederum: „So ist es nicht!“
Sein wir versichert: was uns auch befällt
An Unheil und an Herzeleid,
Der Himmel weiß doch besser drum Bescheid
Als alle Weisen dieser Welt.


54-1 Vgl. oben S. 25.

59-1 Anmerkung des Königs: „Die Milbe und das Rind von Lafontaine.“ Eine solche Fabel gibt es nicht von diesem Dichter; vielleicht ist die Fabel „Die Mücke und der Ochs“ von Phädrus gemeint (vgl. Bd. V, S. 211).

60-1 Anspielung auf die Pest von 1720.

61-1 Anspielung König Friedrichs auf den von ihm selbst gegebenen Erlaß vom 22.Juni 1744: „Renovirtes und geschärftes Edict wegen Ausrottung der Sperlinge und Krähen.“

61-2 Ende der vierziger Jahre herrschte ein großes Viehsterben in den preußischen Provinzen.

62-1 Die Pest, die 1710 Ostpreußen und Litauen heimsuchte. Vgl. Bd. I, S. 114. 118.130 und 137.

63-1 Nisus und Euryalus, Orest und Pylades sind Vorbilder treuer Freundschaft.

64-1 Anmerkung des Königs: „Königsberg.“