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11. An Stille1
Über rechten Mut und wahre Ehre

Freund Stille, was ist Ehre? Mancher sagt:
Genug, wenn man dem Tod zu trotzen wagt.
Zur Freveltat reißt sie den Schwärmer hin;
Der Ehrgeiz sieht in ihr verwegnen Sinn,
Den jedes Nichts entstammt zu blinder Wut;
Vergeltung nur kann seine Rachgier stillen.
Wer so nach Sühne lechzt für eitle Grillen,
Verrät mehr Wildheit als beherzten Mut:
Das hat mit wahrer Ehre nichts gemein.

Bewundrung stößt die Tapferkeit uns ein,
Die krieggestählte, die gefahrumdräut
Fürs Vaterland dem Feind die Stirne beut.
Der Pflichtvergeßne aber trübt den Glanz
Des eignen Ruhms; sein schönster Lorbeerkranz
Welkt auf der Stirn — er ist umsonst erstritten!
Erst jüngst hat Schweden solchen Schimpf erlitten:
Im stolzen Deutschland spielt' es einst den Herrn,
Doch seine Bastardsöhne unterlagen,
Seit Rußland sich ermannt zu kühnem Wagen;
Auf Finnlands Flur erlosch sein Heller Stern:
Das muß nun selbst das Joch der Knechtschaft tragend.2

Ein gleiches Los ist Holland widerfahren,
Das mannhaft streitend einst vor langen Jahren


1 Vgl. die „Gedächtnisrede auf Stille“ in Bd. VI, S. 364ff.

2 Für den russisch-schwedischen Krieg (1741—1743), der mit der Niederlage der Schweden und der Abtretung eines teils von Finnland an Rußland endete, vgl. Bd. II, S. 68. 84. 87. 97.128.137.