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8. An d'Argens1
Über die Schwachen des menschlichen Geistes

Ein Zweifler, ja, Freund d'Argens, bin auch ich:
Gleich Dir lieb' ich's, mein Urteil auszusetzen.
Statt Deinen Geist zum letzten Schluß zu Hetzen,
Prüfst Du den wahren Grund bescheidentlich.
Du kennst den ewig irrenden Verstand,
Des Aberglaubens schmählichen Betrug;
Ich seh' in Deiner Philosophenhand
Die Wage schwanken: Dir ist es genug,
Zu zweifeln, doch Du fürchtest, zu bejahn;
Nie hat Parteiwut es Dir angetan!

Als Jüngling war ich stolz und dünkelhaft;
Rasch stand mein Urteil fest. In reifen Jahren
Lernt' ich vor dieser Torheit mich bewahren;
Da kam ich zum Bewußtsein meiner baren
Unkenntnis und der eitlen Wissenschaft.
Im Traum schwang ich zum Himmel mich empor
Auf Flügeln, die ich wachen Sinns verlor.
Mißtrauen lernt' ich da dem Phantasieren
Eilfertiger Neugier und dem Spekulieren
Des Grüblers, den sein eigner Wahn betrügt.

Mich deucht, ist zweckvoll diese Welt gefügt,
So ward vom Geist ein Fünkchen uns zuteil,
Das klein, für unsre Notdurft doch genügt.
Der Himmel gab es uns zu unserm Heil,


1 Jean Baptisie de Boyer, Marquis d'Argens, der Freund des Königs. Vgl. Bd. VIII, S.132 ff. und 192 f.