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16. An Algarotti1
Über die Tadelsucht

Du liebenswerter Sproß aus fernem Süd,
In dem aufs neu der hohe Geist erblüht,
Gesittung und Geschmack, die einst beglückt
Das alte Rom und herrlich es geschmückt:
Sag an, was treibt uns, bissig einen jeden,
Selbst Freunde, zu bekritteln und zu kränken?
Begierig fahnden wir nach ihren Schäden
Und suchen selbst das Lob mit Gift zu tränken.
Ist's wohl der Eigenliebe wechselnd Wesen,
Das gern des Geistes Maske sich erlesen,
Das lüstern stets nach fremden Schwachen späht
Und selber sich vor ihnen eitel bläht?
Hat Gott, der doch als unser Schöpfer gilt,
In unser Herz geprägt ein heimlich Bild,
Das der Vollendung hehre Züge trägt
Und unsern Sinn stets zum Vergleich erregt?

Doch soll kein Lob dies Lasier mehr verklären,
Nur Eigenliebe konnte es gebären.
Der Höfling schmeichelt seines Feindes Schwächen
Und sucht galant ihm so den Hals zu brechen.
Gewissenhaft verschmäht er offnen Tadel
Und sticht den Gegner mit geheimer Nadel,
Ist auch noch stolz auf seinen scharfen Geist,
Drum fürcht' ich sein Gemüt und Wort zumeist.
Denn wär' er gütig, würden seine Reden


1 Graf Franz Algarotti (1712—1764), der Freund des Königs.