Der König an Voltaire
(24. Juli 1775)

Die Deutschen haben den Ehrgeiz, auch ihrerseits die Segnungen der schönen Künste zu genießen. Sie streben danach, Athen, Rom, Florenz und Paris gleichzukommen. Bei aller Vaterlandsliebe wage ich doch nicht zu behaupten, daß es ihnen bisher gelingt. Zweierlei fehlt: die Sprache309-1 und der Geschmack. Die Sprache krankt am Wortschwall. Die vornehme Welt spricht Französisch, und die paar Schulfüchse und Professoren vermögen ihrer Muttersprache nicht die Glatte und die leichte Beweglichkeit zu geben, die sie nur in der guten Gesellschaft erwerben kann. Dazu kommt die Verschiedenheit der Mundarten. Jede Provinz behauptet die ihre, und bisher hat keine den Vorrang erlangt. An Geschmack fehlt es den Deutschen in allem. Die Nachahmung der Schriftsteller des Augusteischen Zeitalters ist ihnen noch nicht gelungen. Ihr Geschmack ist ein Mischmasch von römischem, englischem, französischem und deutschem Geschmack. Noch fehlt ihnen das kritische Urteil, das uns das Schöne ergreifen heißt, wo es sich findet, und uns zwischen dem Mittelmäßigen und Vollkommenen, dem Edlen und Erhabenen unterscheiden lehrt, um jedes an den rechten Fleck zu setzen. Kommt nur das Wort Gold recht oft in ihrer Poesie vor, so halten sie ihre Verse für<310> wohllautend. Gewöhnlich ist es aber nichts als ein schwülstiges Geschreibsel. In der Geschichte würden sie nicht die geringfügigste Kleinigkeit auslassen, selbst wenn sie ganz nutzlos wäre. Am besten sind ihre Schriften über das Völkerrecht. Mit Philosophie hat sich seit dem genialen Leibniz und der dicken Monade Wolff310-1 niemand mehr befaßt. Sie bilden sich ein, gute Theaterstücke zu haben, aber bisher ist nichts Vollkommenes erschienen.

Deutschland sieht heute auf der gleichen Stufe wie Frankreich unter Franz I. Der Kunstgeschmack beginnt sich zu verbreiten. Man muß abwarten, bis die Natur wirkliche Genies hervorbringt, wie unter Richelieus und Mazarins Regierung. Der Boden, der einen Leibniz hervorbrachte, kann auch andre erzeugen.

Diese schönen Tage meines Vaterlandes werde ich nicht mehr erleben, aber daß sie kommen können, sehe ich voraus. Sie werden mir sagen, das ließe Sie völlig kalt und ich spielte ganz nach Lust und Laune den Propheten, indem ich den Zeitpunkt meiner Prophezeiung nach Kräften hinausschöbe. Doch das ist nun meine Art zu prophezeien, und zwar die allersichersie, da mich niemand Lügen strafen kann.


309-1 Vgl. S. 305.

310-1 Vgl. S. 260.