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Briefe über die Vaterlandsliebe
(1779)

1. Brief des Anapistemon

Gerührt von der freundlichen Aufnahme, die ich auf Ihrem Landsitze fand, drängt es mich, Ihnen meinen Dank dafür auszudrücken. In Ihrer Gesellschaft fand ich die größten Güter, die Menschen zuteil werden können: Freundschaft und Freiheit. Aus Furcht, Ihre Güte zu mißbrauchen, verließ ich Sie mit tiefem Bedauern. Die Erinnerung an die glücklichen Tage, die ich bei Ihnen verbrachte, wird mir unauslöschlich bleiben. Das Gute, das uns begegnet, geht vorüber, aber das Üble hält an. Jedoch die Erinnerung an das genossene Glück verlängert seine Dauer. Mein Gedächtnis ist noch ganz erfüllt von allem, was ich sah und hörte, besonders aber von jener letzten Unterhaltung, die wir am Abend nach Tisch führten. Ich bedaure nur, daß Sie sich in der Erörterung der Bürgerpflichten auf allgemeine Ideen beschränkten und nicht auf Einzelheiten eingingen. Sie würden mir eine große Freude bereiten, wenn Sie sich über diesen wichtigen Gegenstand weiter auslassen wollten. Er geht alle Menschen an und verdient darum gründliche Erörterung. Wie ich Ihnen gestehen muß, habe ich in meinem stillen, mehr dem Genuß als der Betrachtung zugewandten Leben über die gesellschaftlichen Bande und die bürgerlichen Pflichten garnicht nachgedacht. Ich hielt es für hinreichend, ein ehrlicher Mensch zu sein und die Gesetze zu achten. Weiter, glaubte ich, sei nichts nötig. Mein Vertrauen zu Ihnen ist jedoch so groß, daß ich niemanden für befähigter halte, mich über diesen Gegenstand zu belehren. Es gäbe noch so vieles, worüber Sie mich aufklären könnten, doch ich begnüge mich hiermit. Haben Sie also die Güte, mir alle die Kenntnisse mitzuteilen, die Sie sich durch Ihre Studien und Ihr Nachdenken über diesen Gegenstand erworben haben. Jedermann handelt, wenige denken. Sie gehören nicht zu den Gedankenlosen; Sie prüfen die Dinge aufmerksam, erwägen das Für und Wider und geben sich nur mit offenbaren Wahrheiten zufrieden. Sie leben sozusagen mit den alten und neuen Schriftstellern, haben sich alle ihre Kennt<280>nisse angeeignet, und das macht Ihre Unterhaltung so reizvoll und fesselnd, daß man, von Ihnen getrennt und Ihren Worten entrückt, wenigstens den Trost haben möchte, Sie zu lesen. Wenn Sie die Güte haben wollten, meine Wißbegier zu befriedigen und mir Ihre Anschauungen mitzuteilen, so würden Sie den Gefühlen der Achtung und Freundschaft, die ich für Sie hege, noch das der Dankbarkeit Hins zufügen. Vale!

2. Brief des Philopatros

Die liebenswürdigen Ausdrücke, mit denen Sie mich bedenken, waren mir äußerst schmeichelhaft. Ich verdanke sie allein Ihrer Höflichkeit und nicht der Aufnahme, die ich Ihnen bereitete. Sie erkennen meine gute Absicht an, obwohl die Taten ihr nicht so entsprachen, wie ich es gewünscht hätte. Ich hätte Sie durch muntere und aufgeräumte Plaudereien erheitern sollen. Statt dessin lenkte ich die Unterhaltung auf ernste und wichtige Gegenstände. Ich allein trage die Schuld daran. Ich führe eine sitzende Lebensweise, bin von Krankheit geplagt und dem Treiben der großen Welt entrückt. Durch die Lektüre hat sich mein Geist allmählich dem Nachsinnen zugewandt; mein Frohsinn ist dahin und die trübe Vernunft hat ihn ersetzt.

Unwillkürlich sprach ich mit Ihnen so, wie ich denke, wenn ich in meinem Arbeitszimmer allein bin. Ich hatte den Kopf voll von der Republik von Sparta und Athen, deren Geschichte ich gelesen hatte, und von den Bürgerpflichten, über die Sie eine ausführlichere Erklärung wünschen. Sie tun mir zuviel Ehre an. Sie halten mich für einen Lykurg, einen Solon, mich, der nie Gesetze gegeben, sich nie mit einer andren Regierung befaßt hat als der meiner Güter, auf denen ich nun schon seit Jahren in tiefster Zurückgezogenheit lebe. Da Sie indes zu erfahren wünschen, worin nach meiner Meinung die Pflichten eines guten Bürgers bestehen, so seien Sie überzeugt, daß ich diesem Wunsche nur willfahre, um Ihnen zu gehorchen, nicht aber, um Sie zu belehren.

Die neuere PHUosophie verlangt mit Recht, daß man Begriff und Sache zuerst definiere, um Mißverständnissen vorzubeugen und die Gedanken auf bestimmte Gegenstände zu richten. Ich definiere also den guten Bürger, wie folgt. Er ist ein Mann, der es sich zur unverbrüchlichen Regel gemacht hat, der Gesellschaft, deren Mitglied er ist, nach besten Kräften zu nützen, und zwar aus folgendem Grunde. Der Mensch kann als Einzelwesen nicht bestehen. Selbst die barbarischsten Völker bilden kleine Gemeinwesen. Die gesitteten Nationen, die ein Gesellschaftsvertrag280-1<281> bindet, sind sich gegenseitigen Beistand schuldig. Ihr eigner Vorteil, das Gemeinwohl verlangt es. Sobald sie aufhören würden, sich gegenseitig zu helfen und beizustehen, entstände so oder so eine allgemeine Verwirrung, die den Untergang jedes Einzelnen nach sich zöge. Diese Grundsätze sind nicht neu. Sie bildeten die Grundlage aller Republiken, von denen das Altertum uns Kunde gibt. Auf solchen Gesetzen beruhten die griechischen Freistaaten. Auch die römische Republik hatte die gleiche Grundlage. Wurden sie späterhin zerstört, so kommt dies daher, weil die Griechen durch ihren unruhigen Geist und die Eifersucht aufeinander sich selbst das Unglück zuzogen, das über sie hereinbrach, und weil einige römische Bürger, die für Republikaner zu mächtig geworden waren, ihre Regierung in zügellosem Ehrgeiz stürzten, schließlich auch, weil auf der Welt nichts beständig ist. Fassen Sie alles zusammen, was die Geschichte hierüber berichtet, so werden Sie finden, daß der Fall der Republiken nur einigen, durch Leidenschaft verblendeten Bürgern zuzuschreiben ist, die ihren Eigennutz dem Vorteil des Vaterlandes vorzogen, den Gesellschaftsvertrag brachen und wie Feinde des Gemeinwesens handelten, dem sie angehörten.

Ich entsinne mich, daß Sie der Meinung waren, es ließen sich wohl Bürger in den Republiken, nicht aber in den Monarchien finden. Gestatten Sie mir, Sie über diesen Irrtum aufzuklären. Gute Monarchien, die mit Weisheit und Milde regiert werden, kommen durch ihre Regierungsform heutzutage der Oligarchie näher als der Tyrannis; die Gesetze allein herrschen. Gehen wir auf Einzelheiten ein. Stellen Sie sich die Menge von Personen vor, die im Staatsrat, in der Justiz, im Finanzwesen, bei auswärtigen Gesandtschaften, im Handel, in den Heeren, bei der inneren Verwaltung angestellt sind. Rechnen Sie dazu noch die, welche Sitz und Stimme in den Landständen haben: sie alle nehmen an der Regierung teil. Der Fürst ist also kein Despot, der allein seinen Launen frönt. Man muß ihn als den Mittelpunkt betrachten, in dem sich alle Linien der Peripherie vereinigen. Diese Regierungsform sichert die Geheimhaltung bei den Beratungen, die in Republiken fehlt. Da die verschiedenen Verwaltungszweige vereinigt sind, so werden sie Stirn an Stirn in der gleichen Bahn gelenkt, wie die Quadriga der Römer281-1, und wirken gemeinsam zum Wohle des Ganzen. Außerdem finden Sie in Monarchien, wenn ein entschlossener Fürst an ihrer Spitze sieht, immer weniger Parteigeist, wogegen die Republiken oft von den Ränken der Bürger zerrissen werden, die einander zu verdrängen suchen. Die einzige Ausnahme davon dürfte in Europa das Türkische Reich bilden oder irgend eine andre Regierung, die unter Verkennung ihrer wahren Interessen den Vorteil der Untertanen nicht eng genug mit dem des Herrschers verknüpft hat. Ein gut regiertes Königreich muß wie eine Familie sein, deren Vater der Fürst und deren Kinder die Bürger sind. Glück und Unglück werden geteilt; denn der Herrscher könnte nicht glücklich sein, wenn sein Volk elend ist. Ist diese Einheit gut<282> befestigt, so bringt die Dankespfiicht gute Bürger hervor; denn ihre Verbindung mit dem Staate ist zu innig, als daß sie sich von ihm losreißen könnten. Dabei hätten sie alles zu verlieren, aber nichts zu gewinnen. Wollen Sie Beispiele? Die Regierung von Sparta war oligarchisch und hat eine Menge großer, dem Vaterland ergebener Bürger hervorgebracht. Rom lieferte nach dem Verlust seiner Freiheit noch einen Agrippa, einen Paetus Thrasea, einen Helvidius Priscus, einen Corbulo und Agricola282-1, Kaiser wie Titus, Mark Aurel, Trajan, Julian, kurz eine Fülle männlicher und mannhafter Seelen, die die öffentliche Wohlfahrt dem eignen Vorteil vorzogen.

Aber ich weiß nicht, wie ich unmerklich abschweife. Ich wollte Ihnen einen Brief schreiben, und wenn ich so fortfahre, wird eine Abhandlung daraus. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Das Vergnügen, mich mit Ihnen zu unterhalten, reißt mich fort, und ich fürchte, Ihnen zur Last zu fallen. Seien Sie jedoch versichert, daß ich unter allen Gliedern des Staatskörpers, dem ich angehöre, keinem so gern diene als Ihnen, lieber Freund. Ich bin mit größter Achtung usw.

3. Brief des Anapistemon

Tausend Dank für die Mühe, die Sie sich geben, mich über einen Gegenstand aufzuklären, den ich nur wenig untersucht und über den ich nur sehr unbestimmte Begriffe habe! Ihr Brief erschien mir nicht nur nicht zu lang, sondern vielmehr zu kurz; denn ich ahne schon, Sie werden mir noch mancherlei erklären müssen. Inzwischen wundern Sie sich bitte nicht, wenn ich einige Einwendungen mache. Klären Sie meine Unwissenheit auf, zerstören Sie meine Vorurteile oder bestärken Sie mich in meinen Ansichten, wenn sie richtig sind!

Kann man sein Vaterland wirklich lieben? Ist diese sogenannte Liebe nicht die Erfindung irgend eines PHUosophen oder eines grüblerischen Gesetzgebers, die von den Menschen eine Vollkommenheit fordern, die ihre Kräfte übersteigt? Wie soll man das Volk lieben? Wie kann man sich für das Wohl irgend einer Provinz unsrer Monarchie aufopfern, auch wenn man sie nie gesehen hat? Das alles läuft für mich auf die Frage hinaus, wie man mit Inbrunst und Begeisterung etwas lieben kann, was man garnicht kennt? Solche Betrachtungen, die sich dem Geiste schier von selbst<283> aufdrängen, haben mich überzeugt, daß es für einen verständigen Menschen das klügste ist, ein ruhiges, sorgloses und müheloses Pflanzendasein zu führen und sich so wenig wie möglich anzustrengen, bis wir ins Grab sinken, das uns allen beschieden ist.

Nach diesem Plane habe ich stets gelebt. Da begegnete mir eines Tages Professor Garbojos, dessen Verdienste Sie kennen. Wir unterhielten uns über diesen Gegenstand, und er erwiderte mir mit der ihm eignen Lebhaftigkeit: „Ich gratuliere Ihnen, Herr Baron, daß Sie ein so großer Philosoph sind!“ — „Ich? Durchaus nicht!“ entgegnete ich. „Ich kenne diese Art von Leuten garnicht und habe nichts von ihren Machwerken gelesen. Meine ganze Bibliothek besieht nur aus sehr wenigen Büchern; Sie finden darin nur den 'Perfekten Landwirt', die Zeitungen und den laufenden Kalender; das genügt.“ — „Trotzdem“, fuhr er fort, „sind Sie voll von den Grundsätzen Epikurs. Wenn man Sie so hört, sollte man glauben, Sie wären in seinem Garten heimisch.“ — „Ich kenne weder Epikur noch seinen Garten“, erwiderte ich; „aber was lehrt denn dieser Epikur? Bitte, unterrichten Sie mich doch darüber.“ Da nahm mein Professor eine würdevolle Miene an und sprach also: „Ich sehe, daß die schönen Geister sich berühren, da der Herr Baron ebenso denkt wie ein großer Philosoph. Epikur lehrte, sich nie in Geschäfte noch in die Regierung zu mischen, und zwar aus folgenden Gründen. Um sich jene Seelenruhe zu bewahren, worin nach seiner Lehre das Glück besieht, darf der Weise seine Seele nicht der Gefahr aussetzen, von Verdruß, Zorn und andren Leidenschaften erregt zu werden, die die Sorgen und Geschäfte notwendig mit sich bringen. Es sei also besser, jede Verlegenheit, jede unangenehme Tätigkeit zu meiden, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und alle Kräfte zur Selbsterhaltung zusammenzunehmen.“ — „Guter Gott“, rief ich aus, „wie entzückt bin ich von diesem Epikur! Bitte leihen Sie mir sein Buch.“ — „Wir besitzen von ihm“, erwiderte jener, „kein vollständiges Lehrgebäude, sondern nur verstreute Bruchstücke. Lukrez hat einen Teil seines Systems in schöne Verse gebracht. Einzelne Brocken finden wir in den Werken von Cicero, der einer andren Sekte angehörte und alle seine Behauptungen widerlegt und vernichtet.“

Sie können sich nicht vorstellen, wie stolz ich war, in mir selbst das gefunden zu haben, was ein alter griechischer Philosoph vor fast dreitausend Jahren gedacht hat! Das bestärkt mich mehr und mehr in meinen Ansichten. Ich beglückwünsche mich zu meiner Unabhängigkeit; ich bin frei, bin mein eigner Herr, Fürst und König. Ich überlasse ungestümen Toren den trügerischen Traum von Größe, dem sie nachjagen. Ich lache über die Habgier der Geizigen, die eitle Schätze sammeln, die sie im Tode verlassen müssen, und stolz auf die Vorzüge, die ich besitze, erhebe ich mich über die ganze Welt.

Ich hoffe auf Ihren Beifall; denn ich denke wie ein Philosoph, den ich weder gesehen noch gelesen habe. Die Natur allein muß diese Übereinstimmung der Meinungen erzeugt haben; sie müssen also Wahrheit enthalten. Haben Sie die Güte,<284> mir zu sagen, was Sie darüber denken. Vielleicht stimmen wir überein. Wie dem aber auch sei, nichts wird die Gefühle der Achtung und Freundschaft vermindern, mit denen ich bin usw.

4. Brief des Philopatros

Ich glaubte, lieber Freund, mit der zusammenhängenden Darlegung meiner Ansichten über die bürgerlichen Pflichten Ihre Wißbegier befriedigt zu haben, aber da kommen Sie mir mit einer neuen Frage. Ich sehe, Sie wollen mich mit Epikur in Streit bringen. Das ist kein unsanfter Gegner; ich schlage den Kampf also nicht aus. Und da Sie mich nun einmal in die Schranken geführt haben, so will ich mein möglichstes tun, um die Bahn zu durchlaufen. Um aber die Dinge nicht zu verwirren, werde ich Ihren Einwendungen in der Ordnung folgen, die Ihr Brief enthält.

Ich weise Sie zunächst darauf hin, daß es für einen Ehrenmann nicht genügt, keine Verbrechen zu begehen; er muß auch tugendhaft sein. Wenn er die Gesetze nicht übertritt, so vermeidet er nur Strafen. Ist er aber weder gefällig noch dienstfertig, noch nützlich, so ist er ohne alles Verdienst und muß folglich auf die öffentliche Achtung verzichten. Sie werden also zugeben, daß Ihr eigner Vorteil Ihnen anrät, sich nicht von der Gesellschaft loszulösen, vielmehr eifrig an allem mitzuwirken, was ihr ersprießlich sein kann. Wie? Sie halten die Vaterlandsliebe für eine abstrakte Tugend, wo so viele geschichtliche Beispiele beweisen, wieviel Großes sie vollbracht hat, indem sie die Menschen hoch über alles Menschliche erhob und ihnen die Kraft zu den edelsten und ruhmvollsten Taten einhauchte! Das Wohl der Gesellschaft ist auch das Ihre. Ohne es zu wissen, sind Sie mit so starken Banden an Ihr Vaterland geknüpft, daß Sie sich weder absondern, noch von ihm lossagen können, ohne diesen Fehler schwer zu büßen. Ist die Regierung glücklich, so werden Sie selbst gedeihen. Leidet sie, so fällt ihr Mißgeschick auf Sie zurück. Erfreuen die Bürger sich ehrbaren Wohlstands, so wird es auch dem Fürsien wohl ergehen. Werden aber die Bürger vom Elend bedrückt, so ist die Lage des Fürsien bedauernswert. Die Vaterlandsliebe ist also nicht etwas rein Ideelles, sie ist sehr real. Nicht diese Häuser, Mauern, Wälder und Felder nenne ich Ihr Vaterland, sondern Ihre Eltern, Ihr Weib, Ihre Kinder und Freunde, die, welche in den verschiedenen Zweigen der Staatsverwaltung für Ihr Wohl arbeiten und Ihnen tägliche Dienste leisten, ohne daß Sie sich nur die Mühe geben, von ihrem Wirken Notiz zu nehmen. Das sind die Bande, die Sie an die Gesellschaft ketten: der Vorteil der Menschen, denen Sie Liebe schulden, Ihr eigner und der Vorteil der Regierung, die, unlöslich verknüpft, das sogenannte Ge- meinwohl der Gesamtheit bilden.

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Sie sagen, man könne weder das Volk noch die Bewohner einer Provinz lieben, die man garnicht kennt. Wenn Sie darunter einen Bund vertrauter Freunde verstehen, so haben Sie recht; es handelt sich hier aber nur um jenes Wohlwollen gegen das Volk, das wir aller Welt schuldig sind und erst recht denen, die mit uns denselben Boden bewohnen und uns beigesellt sind. Und was die Provinzen unsrer Monarchie betrifft — müssen wir gegen sie nicht wenigstens die Pflichten erfüllen, die man Bundesgenossen schuldet? Angenommen, vor Ihren Augen fiele ein Unbekannter in einen Fluß. Würden Sie ihn nicht vor dem Ertrinken retten? Und wenn Sie einem Wandrer begegneten, den ein Mörder erschlagen will, würden Sie ihm nicht zu Hilfe eilen und ihn zu retten versuchen? Das Gefühl des Mitleids ward von der Natur in uns gelegt. Es treibt uns unwillkürlich an, einander beizustehen und die Pflichten gegen unsre Nächsten zu erfüllen. Sind wir also selbst Unbekannten Beistand schuldig, so schließe ich daraus, daß wir ihn erst recht unsren Mitbürgern schulden, mit denen wir durch den Gesellschaftsvertrag verbunden sind. Gestatten Sie mir noch ein Wort über die Provinzen unsrer Monarchie, gegen die Sie mir so lau scheinen. Sehen Sie nicht ein, daß der Verlust dieser Provinzen die Regierung schwächen würde? Also wäre sie, wenn ihr die aus diesen Provinzen gezogenen Hilfsmittel fehlten, weniger als jetzt imstande, Ihnen beizustehen, wenn Sie dessen bedürften. Sie ersehen aus meinen Darlegungen, lieber Freund, daß die staatlichen Beziehungen sehr ausgedehnt sind und daß man nur durch tieferes Eingehen einen rechten Begriff davon erhält.

Aber nun zu einer andern Behauptung, die ich Ihnen nicht hingehen lassen kann. Wie? Ein Mann von Talent und Geist wie Sie wagen zu behaupten, daß das Vegetieren der Pflanzen den Vorzug vor der tierischen Bewegungsfreiheit habe? Ist es möglich, daß ein verständiger Mann schlaffe Ruhe der ehrbaren Arbeit und ein weichliches, weibisches, nutzloses Dasein tugendhaften Handlungen vorzieht, die den Namen dessen, der sie vollbracht hat, unsterblich machen? Jawohl, wir gehen alle unsrem Grabe entgegen, das ist ein allgemeines Gesetz! Aber selbst unter den Toten macht man einen Unterschied. Sind die einen, kaum begraben, schon vergessen und hinterlassen die mit Verbrechen Befleckten ein schmähliches Andenken, so werden die Tugendhaften, die dem Vaterlande nützliche Dienste geleistet haben, mit Lob und Segen überhäuft und der Nachwelt als Vorbilder hingestellt, ja ihr Andenken geht niemals unter. Zu welcher von diesen drei Klassen möchten Sie gehören? Ohne Zweifel zur letzten.

Nachdem ich so viele irrige Schlüsse zerstört habe, dürfen Sie wirklich nicht erwarten, daß Ihr Epikur, obwohl ein Grieche, mir imponiert. Gestatten Sie, daß ich seine eignen Worte erläutere, um ihn gründlich zu widerlegen. „Der Weise soll sich weder in Geschäfte noch in die Regierung mischen.“ Ja, wenn er auf einer wüsten Insel haust. „Seine unempfindliche Seele soll keiner Leidenschaft, weder schlechter Laune noch der Eifersucht noch dem Zorn ausgesetzt sein.“ Das ist also Epikur, der Lehrer<286> des Wohlbehagens, der die stoische Unempfindlichkeit predigt! Nicht dies mußte er sagen, sondern das Gegenteil. Das edelste Trachten des Weisen besteht nicht darin, die Gelegenheiten zu vermeiden, sondern wenn sie sich darbieten, die Seelenruhe zu bewahren — in den Augenblicken, wo alles ringsum seine Leidenschaften erregt und aufreizt. Es ist kein Verdienst, wenn ein Steuermann sein Schiff auf ruhiger See lenkt, wohl aber, wenn er es den Stürmen und widrigen Winden zum Trotz glücklich in den Hafen bringt. Leichte und bequeme Dinge achtet niemand; nur Überwindung von Schwierigkeiten wird anerkannt. „Es ist also besser, die Welt gehen zu lassen, wie sie geht, und nur an sich zu denken.“ Oh, Herr Epikur, sind das eines Philosophen würdige Gefühle? Ist nicht das erste, woran Sie denken sollten, das Wohl der Menschheit? Sie wagen zu verkünden, daß ein jeder nur sich selbst lieben soll? Würde ein Mensch, der das Unglück hat, Ihren Grundsätzen zu folgen, nicht mit Recht allgemein verabscheut werden? Wenn ich niemanden liebe, wie kann ich da Liebe beanspruchen? Sehen Sie nicht ein, daß man mich dann als gefährliches Ungeheuer ansehen würde, dessen Beseitigung im Interesse der öffentlichen Sicherheit statthaft wäre? Wenn die Freundschaft verschwände, welcher Trost bliebe dann unsrem armen Geschlecht?

Nehmen wir ein Gleichnis zu Hilfe, um uns noch verständlicher zu machen! Vergleichen wir den Staat mit dem menschlichen Körper. Aus der Tätigkeit und dem einmütigen Zusammenwirken aller seiner Teile entsieht seine Gesundheit, Kraft und Stärke. Venen, Schlagadern, ja die feinsten Nerven wirken an seinem animalischen Dasein mit. Wenn der Magen seine Verdauungsarbeit verlangsamte, die Gedärme ihre wurmförmige Bewegung nicht kräftig ausführten, die Lunge zu schwach atmete, das Herz sich nicht rechtzeitig erweiterte und zusammenzöge, die Pulse sich nicht nach den Bedürfnissen des Blutumlaufs öffneten und schlössen, der Nervensaft nicht nach den Muskeln strömte, die sich zur Ausführung der Bewegungen zusammenziehen müssen, so würde der Körper erschlaffen, unmerklich hinsiechen, und die Untätigkeit seiner Glieder würde seine völlige Zerstörung herbeiführen. Dieser Körper ist der Staat. Seine Glieder sind Sie und alle Bürger, die ihm angehören. Sie sehen also, daß jeder einzelne seine Aufgabe erfüllen muß, damit die Gesamtheit gedeiht. Was wird nun aus der glücklichen Unabhängigkeit, die Sie so preisen, wenn nicht dies, daß sie Sie zu einem gelähmten Gliede des Körpers macht, dem Sie angehören?

Bemerken Sie doch gütigst, daß Ihre Philosophie die klarsten Begriffe verwirrt. Sie empfiehlt Trägheit und Müßiggang als Tugend, während doch jeder zugibt, daß sie Lasier sind. Ist es eines Philosophen würdig, uns anzuspornen, unsre Zeit zu verlieren, die das Kostbarste ist, was wir haben, da sie stets entflieht und nie zurückkehrt? Soll man uns ermutigen, ein müßiges Leben zu führen, unsre Pflichten zu verabsäumen, für alle andren unnütz und uns selbst zur Last zu werden? Ein altes Sprichwort sagt: Müßiggang ist aller Lasier Anfang. Man könnte hinzufügen:<287> Fleiß ist aller Tugenden Beginn. Das ist eine feststehende Wahrheit, bestätigt durch die Erfahrung aller Zeiten und Länder.

Soviel von Epikur; ich glaube, es genügt. Wenden wir uns nun Ihren eignen Meinungen zu. Verurteilen Sie die Ehrsüchtigen; das ist mir recht. Tadeln Sie die Geizigen; ich stimme Ihnen bei. Aber dürfen Sie sich deshalb durch unverdaute Begriffe und armselige Vorurteile verleiten lassen, Ihre Mitarbeit am allgemeinen Wohl zu verweigern? Sie besitzen alles, was zu solcher Arbeit erforderlich ist, Geist, Rechtschaffenheit, Talente. Da die Natur Ihnen nichts versagt hat, was Ihnen guten Ruf verschaffen könnte, so sind Sie unentschuldbar, wenn Sie die Gaben, mit denen Sie überhäuft sind, unbenutzt lassen. Sie übertreiben Ihre Unabhängigkeit, Ihr angebliches Königtum, die Freiheit, die Sie zu genießen vorgeben und die Sie über die ganze Welt erhebt. Ja, ich zolle Ihnen Beifall, wenn Sie unter Ihrer Unabhängigkeit Selbstbeherrschung, unter Ihrem Königtum Gewalt über Ihre Leidenschaften verstehen. Sie können sich über viele Ihres Geschlechts erheben, wenn glühende Liebe zur Tugend Sie beseelt, wenn Sie ihr alle Tage, was sage ich, alle Augenblicke Ihres Daseins weihen. Ohne diese Berichtigung aber ist die Unabhängigkeit, deren Sie sich rühmen, nichts als Neigung zum Müßiggang, mit schönen Worten verbrämt; und die Trägheit, die Sie beständig preisen und die Sie zu allem und jedem unbrauchbar macht, erzeugt als natürliche Folge Langeweile. Fügen Sie das boshafte Urteil der Welt hinzu, die stets zu übler Nachrede bereit ist. Man wird Ihren Müßiggang beim rechten Namen nennen und Gott weiß welche Spöttereien gegen Sie loslassen, um sich an Ihrer Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wohl zu rächen.

Genügt das alles noch nicht, um Sie zu überzeugen, so muß ich wohl noch eine Stelle aus der Bibel anführen: „Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen.“ Wir sind auf der Welt, um zu arbeiten. Das ist so wahr, daß auf hundert Menschen achtundneunzig kommen, die arbeiten, und zwei, die mit ihrer Untätigkeit prahlen. Wenn es so törichte Menschen gibt, die ihre Eitelkeit dareinsetzen, nichts zu tun und den ganzen Tag die Arme zu verschränken, so sind die Arbeitsamen doch weit besser dran; denn der Geist braucht etwas, das ihn beschäftigt und zerstreut; er bedarf der Gegenstände, die seine Aufmerksamkeit fesseln; sonst ergreift ihn Überdruß und macht ihm sein Dasein zur unerträglichen Last.

Ich rede hier ohne Rückhalt zu Ihnen; denn Sie sind für die Wahrheit geschaffen, Sie sind wert, sie zu hören, und ich liebe Sie zu sehr, um Ihnen etwas zu verhehlen. Mein einziges Ziel ist, Sie dem Vaterlande wiederzugewinnen und ihm in Ihrer Person ein nützliches Werkzeug zu geben, aus dem es Nutzen ziehen kann. Das allein leitet meine Feder und bewegt mich, Ihnen alles darzulegen, was die Vaterlandsliebe mir eingibt. Der Eifer für das allgemeine Wohl war der Grundsatz aller guten Regierungen in alter und neuer Zeit, die Grundlage ihrer Größe und ihres Gedeihens. Die unbestreitbaren Wirkungen davon brachten gute Bürger hervor und<288> jene hochherzigen und tugendhaften Seelen, die den Ruhm und die Stütze ihrer Landsleute bildeten.

Entschuldigen Sie die Länge dieses Briefes! Die Fülle des Stoffes könnte viele Bände liefern, ohne daß man ihn erschöpfte. Doch es genügt, Ihnen die Wahrheit zu zeigen, um den Irrtum und die Vorurteile zu vernichten, die einem Geist wie dem Ihren ftemd sind. Ich bin usw.

5. Brief des Anapistemon

Ich habe Ihren Brief mit der ihm gebührenden Aufmerksamkeit gelesen. Ich war überrascht von der Menge der Gründe, mit denen Sie mich niederschlagen. Sie sind entschlossen, mich zu besiegen und meine Meinungen, an Ihren Wagen gefesselt, im Triumph dahinzuführen. Ich gesiehe, es liegt viel Überzeugungstraft in den Motiven, mit denen Sie mich zu bekehren suchen, und sie gründlich zu wider, legen, wird mir viel Mühe kosten. Um mich rascher niederzuwerfen, sagen Sie, mein Verstand habe mein Herz irregeführt, ich redete der Trägheit das Wort und veredelte dies Lasier durch den verführerischen Schein der Mäßigung oder ähnlicher Tugenden. Nun wohl, ich gebe Ihnen zu: Müßiggang ist ein Lasier, man soll dienstfertig und gefällig gegen jedermann sein, soll das Volk zwar nicht wie seine Nächsien lieben, wohl aber sich um sein Wohlergehen kümmern, mehr noch, ihm so nützlich wie möglich sein. Ich sehe ein, daß der Allgemeinheit, der ich angehöre, kein Unglück zustoßen kann, ohne daß ich dessen Wirkungen verspüre, und daß, wenn die Bürger leiden, der Staat dadurch verliert.

In allen diesen Punkten gebe ich klein bei. Ferner gebe ich zu, daß alle, die in der Staatsverwaltung tätig sind, an der höchsten Gewalt teilhaben. Aber was geht mich das alles an? Ich bin weder eitel noch ehrgeizig. Aus welchem Grunde könnte ich mir eine Last aufladen wollen, die ich nicht tragen mag, und mich in Geschäfte stürzen, wenn ich glücklich lebe, ohne daß der Gedanke an solche Tätigkeit mir in den Sinn käme? Sie räumen ein, daß maßloser Ehrgeiz ein Lasier ist. Sie müssen mir also beipflichten, wenn ich nicht in dies Lasier verfalle, und dürfen nicht verlangen, daß ich meine süße Gemütsruhe aufgebe, um mich nach Herzenslust allen Launen Fortunas auszusetzen. Ach, lieber Freund, woran denken Sie bei solchen Ratschlägen! Machen Sie sich doch eine lebhafte Vorstellung von dem harten Joche, das Sie mir aufbürden wollen, welche Beschwerden es mit sich bringt und welche leidigen Folgen es hat! In meiner jetzigen Lage schulde ich mir allein Rechenschaft über mein Benehmen. Ich bin der einzige Richter meiner Handlungen, genieße ein<289> anständiges Einkommen und brauche mein Brot nicht im Schweiße meines Angesichts zu verdienen, wie es nach Ihrer Versicherung unsren Voreltern anbefohlen ward. Ich genieße meine Freiheit. Welche Torheit sollte mich dazu bringen, mich für mein Benehmen gegen andre verantwortlich zumachen? Die Eitelkeit? Ich kenne sie nicht. Der Wunsch, Gehalt zu beziehen? Das brauche ich nicht. Ich soll mich also ohne irgend einen Grund in Geschäfte mischen, die mich nichts angehen, Geschäfte, die unbequem, peinlich, ermüdend sind und angestrengte Tätigkeit erfordern? Weswegen sollte ich all diese Mühen auf mich nehmen? Um mich dem Urteil irgend eines Vorgesetzten zu unterwerfen, von dem ich nicht abhängen will noch mag? Sehen Sie nicht, wie viele Menschen sich schon um Ämter bewerben? Warum soll ich ihre Zahl vermehren? Ob ich Diensie nehme oder nicht, es geht doch alles seinen Gang.

Aber gestatten Sie mir, diesen Gründen noch einen stärkeren hinzuzufügen. Zeigen Sie mir das Land in Europa, wo das Verdienst seines Lohnes stets sicher ist! Nennen Sie mir den Staat, wo das Verdienst anerkannt wird und ihm Gerechtigkeit widerfährt! Ach, wie ärgerlich ist es, wenn man Zeit, Ruhe und Gesundheit seinem Amt aufgeopfert hat und dann beiseite geschoben wird oder noch empörenderen Undank erdulden muß! Beispiele solchen Mißgeschicks fallen mir in Menge ein. Wenn Ihr Sporn mich zur Arbeit antreibt, hält dieser Zügel mich auf der Stelle zurück.

Meine offene Sprache zeigt Ihnen, daß ich Ihnen nichts verhehle. Ich öffne Ihnen mein Herz als Freund, lege Ihnen all die Gründe dar, die Eindruck auf mich gemacht haben, zumal wir uns ja nicht streiten, sondern jeder nur seine Meinung auseinandersetzt und die triftigste siegen muß. Ich erwarte, daß Sie mir nichts schuldig bleiben und mir in kurzem Stoff zu neuen Betrachtungen geben. Das wird Ihnen dann wieder eine neue Antwort von mir eintragen. Ich bin mit herzlicher Hochachtung usw.

6. Brief des Philopatros

Ich bin stolz darauf, lieber Freund, einige Ihrer Vorurteile untergraben zu haben. Sie sind alle gleich schädlich, und man kann sie nicht genug zerstören. Sie sagen mit Recht, der Streit herrsche in Wirklichkeit nicht zwischen uns, sondern zwischen den Gründen, von denen die stärksten und triftigsten über die schwächeren siegen muffen. Wir tun ja auch nichts, als einen Gegenstand zu erörtern, um zu entdecken, wo die Wahrheit liegt, und uns auf feiten des Augenscheins zu stellen. Glauben Sie indes nicht, meine Gründe seien erschöpft. Bei nochmaliger Durchsicht Ihrer<290> Briefe stellte sich in meinem Geiste eine Fülle neuer Gedanken ein. Es erübrigt nur, sie Ihnen möglichst klar und bündig darzulegen.

Wenn Sie gestatten, beginne ich mit der Erklärung, was ich unter dem Gesellschaftsvertrage versiehe. Er ist eigentlich eine stillschweigende Übereinkunft aller Staatsbürger, mit gleichem Eifer an der allgemeinen Wohlfahrt mitzuwirken. Hieraus entspringt für jeden Einzelnen die Pflicht, nach Maßgabe seiner Mittel, seiner Talente und seines Standes zum Wohl des gemeinsamen Vaterlandes beizutragen. Die Notwendigkeit der Selbsierhaltung und der eigne Vorteil wirken auf den Geist des Volkes und treiben es an, um des eignen Nutzens willen für das Wohl seiner Mitbürger zu arbeiten. Daher der Land-, Wein- und Gartenbau, die Viehzucht, die Manufakturen, der Handel; daher die vielen tapferen Vaterlandsverteidiger, die dem Staat ihre Ruhe, ihre Gesundheit und ihr ganzes Dasein weihen. Ist aber auch der Eigennutz zum Teil die Triebfeder dieser edlen Tätigkeit, so gibt es doch noch mächtigere Motive, sie zu wecken und anzuregen, besonders bei denen, die durch edlere Geburt und höhere Gesinnungen mit ihrem Vaterlande enger verknüpft sein sollen. Pflichttreue, Ehr- und Ruhmliebe sind die stärksten Triebfedern, die in wahrhaft tugendhaften Seelen wirken.

Wie kann man sich vorstellen, daß Reichtum dem Müßiggang zum Schild dienen könnte und daß man der Regierung um so weniger anhinge, je mehr man besäße? Solche irrigen Behauptungen sind unhaltbar; sie können nur aus einem ehernen Herzen, einer fühllosen, in sich verschlossenen Seele entspringen, die nichts als Eigenliebe kennt und sich nach Kräften von allen absondert, an die Pflicht, Vorteil und Ehre sie bindet. Herkules allein ist, so sehr die Sage ihn auch als Herkules darstellt, nicht furchtbar; er wird es erst, wenn seine Genossen ihm helfen und beistehen.

Aber vielleicht ermüdet Sie die abstrakte Beweisführung. Nehmen wir Beispiele zu Hilfe. Ich will Ihnen einige aus dem Altertum, besonders aus den Republiken anführen, für die Sie, wie ich bemerkt habe, besondere Vorliebe hegen. Ich mache also den Anfang mit einigen Zitaten aus den Reden des Demosthenes, die unter dem Namen „Philippika“ bekannt sind. „Man sagt, Athener, Philipp sei gestorben. Aber was liegt daran, ob er tot oder lebendig ist? Ich sage Euch, Athener, ja ich sage Euch, Ihr werdet Euch durch Eure Nachlässigkeit, Eure Trägheit und Eure Achtlosigkeit bei den wichtigsten Geschäften bald einen andren Philipp schaffen.“ Nun werden Sie wenigstens überzeugt sein, daß dieser Schriftsteller so wie ich dachte. Doch ich begnüge mich nicht mit der einen Stelle. Hier eine zweite. Demosihenes sagt vom König von Mazedonien: „Man hält es stets mit dem, bei dem man Eifer und Tätigkeit findet.“ Dann fährt er fort: „Wenn Ihr also ebenso denkt, Athener, wenigstens jetzt, denn bisher tatet Ihr es nicht, wenn Jeder von Euch, sobald es nötig sein wird und er sich nützlich machen kann, jeden schlechten Vorwand beiseite läßt und bereit ist, der Republik zu dienen, die Reichen mit ihrem Vermögen, die Jugend mit ihrem Leben, wenn jeder handeln will wie für sich selbst und sich nicht mehr darauf verläßt,<291> daß andre für ihn tätig sind, wahrend er müßig geht, so werdet Ihr mit Hilfe der Götter Eure Sache wiederherstellen und das zurückgewinnen, was Ihr durch Nachlässigkeit verloren habt.“ Noch eine andre, fast gleichlautende Stelle aus einer Rede für die Regierung: „Hört, Athener! Die öffentlichen Gelder, die in überflüssigen Ausgaben verloren gehen, sollt Ihr gleichmäßig und nutzbringend verteilen. Das heißt, die unter Euch, die im waffenfähigen Alter sind, durch Kriegsdienste, die über dies Alter hinaus sind, durch Ämter beim Gericht oder in der Verwaltung oder sonstwie. Ihr sollt selbst dienen, keinem andren diese Bürgerpflicht abtreten und selbst ein Heer bilden, das man das Volk in Waffen nennen kann. Dadurch werdet Ihr leisten, was das Vaterland von Euch fordert.“ Das verlangte Demosthenes von den athenischen Bürgern.

Ebenso dachte man in Sparta, obwohl die Regierungsform dort oligarchisch war. Der Grund dieser gleichen Gesinnung war ganz einfach: kein Staat, welche Verfassung er auch habe, kann bestehen, wenn nicht alle Bürger übereinstimmend zur Erhaltung ihres gemeinsamen Vaterlandes beitragen.

Gehen wir nun die Beispiele durch, die uns die römische Republik liefert. Ihre große Zahl bringt mich in Verlegenheit um die Auswahl. Ich will Ihnen nicht von Mucius Scävola, Decius291-1 und dem alteren Brutus291-2 reden, der das Todesurteil seines eignen Sohnes unterschrieb, um die Freiheit der Republik zu retten. Aber wie könnte ich die Hochherzigkeit des Atilius Regulus vergessen, der seinen eignen Vorteil dem der Republik opferte und nach Karthago zurückkehrte, um dort einen quälvollen Tod zu erleiden? Nach ihm kommt Scipio Africanus, der den Krieg, den Hannibal in Italien führte, nach Afrika verlegte und ihn durch einen entscheidenden Sieg über die Karthager ruhmvoll beendete. Dann erscheint Cato, der Zensor, Ämilius Paullus, der Besieger des Königs Perseus, dann Cato von Utica, der eifrige Verfechter der alten Verfassung. Soll ich Cicero vergessen, der sein Vaterland vor den Mordanschlägen Catilinas rettete, Cicero, der die sterbende Freiheit der Republik verteidigte und mit ihr unterging? Soviel vermag die Vaterlandsliebe über die energische, hochherzige Seele eines guten Bürgers. Dem von dieser glücklichen Begeisterung erfüllten Geiste erscheint nichts unmöglich; er schwingt sich rasch zum Heldentum empor. Das Andenken jener großen Männer wurde mit Lob überschüttet; alle Jahrhunderte bis auf unsre Zeit haben es nicht zu schwächen vermocht: ihre Namen werden noch heute mit Verehrung genannt. Das sind Vorbilder, würdig der Nachahmung bei allen Völkern und in allen Verfassungen. Aber das Geschlecht dieser männlichen Seelen, dieser Männer voller Nero und Tugend, scheint ausgestorben. Weichlichkeit ist an Stelle der Ruhmesliebe getreten. Müßiggang hat die Wachsamkeit ersetzt, und elender Eigennutz zerstört die Vaterlandsliebe.

<292>

Glauben Sie nicht, ich beschränke mich auf Beispiele aus den Republiken. Ich muß Ihnen auch solche aus den Annalen der Monarchien anführen. Frankreich darf sich rühmen, große Männer hervorgebracht zu haben: Bayard, Bertrand du Guesclin292-1, Kardinal d'Amboise292-2, den Herzog von Guise, der die Picardie rettete292-3, Heinrich IV., Kardinal Richelieu, Sully, kurz vorher den Kanzler L'Hôpital292-4, einen trefflichen, tugendhaften Bürger, dann Turenne, Conde, Colbert, die Marschälle von Luxemburg und Villars, kurz, eine Fülle berühmter Namen, die sich in einem Briefe nicht alle aufzählen lassen.

Wenden wir uns nun nach England und übergehen wir Alfred den Großen und eine Menge berühmter Männer aus vergangenen Jahrhunderten, um gleich auf die neuere Zeit zu kommen. Da finde ich einen Marlborough, Stanhope Ehesterfield292-5, Bolingbroke und Pitt292-6, deren Namen nie untergehen werden.

Deutschland hat im Dreißigjährigen Krieg Energie entfaltet; ein Bernhard von Weimar, ein Herzog von Braunschweig292-7 und andre Fürsten taten sich durch ihren Mut hervor, eine Landgräfin von Hessen, die Regentin des Landes292-8, bewies hohe Standhaftigkeit.

Man muß gestehen, wir leben in einem kleinen Jahrhundert; die Epochen großer und tugendhafter Geister sind vorüber. Wenn aber in jenen für die Menschheit so ruhmreichen Zeiten verdienstvolle Männer, von edlem Wetteifer getrieben, sich ihrem Vaterlande nützlich machten, warum folgen Sie dann nicht ihrem glorreichen Beispiel, Sie, der Sie gleichfalls Verdienste haben? Entsagen Sie hochherzig den abstoßenden Ausreden, die Ihnen die Trägheit einflüstert, und ist Ihr Herz nicht fühllos, so beweisen Sie durch Ihre Dienste Ihre Liebe zum Vaterland, dem Sie Dank schulden. Sie sind nicht ehrgeizig, sagen Sie. Das billige ich, aber ich tadle es, wenn Sie ohne Wetteifer sind; denn es ist eine Tugend, unsre Mitbewerber in unsrer Laufbahn in edlen Taten zu überholen. Ein Mensch, der aus Trägheit nicht handelt, gleicht einer Statue von Erz oder Marmor, die stets die gleiche Stellung bewahrt, die der Künstler ihr gab. Tätigkeit unterscheidet uns und erhebt uns über das Pflanzenreich; Müßiggang aber bringt uns ihm näher.

Doch kommen wir der Sache noch näher und greifen wir unmittelbar die Beweggründe an, mit denen Sie Ihre Nutzlosigkeit und Ihre Gleichgültigkeit gegen das öffentliche Wohl zu rechtfertigen wähnen. Sie fürchten sich, sagen Sie, sich für irgend ein Amt verantwortlich zu machen. Wahrhaftig, diese Entschuldigung sieht<293> Ihnen nicht an! Sie gehörte eher in den Mund eines, der seinen geringen Talenten mißtraut, sich seiner Unfähigkeit bewußt ist oder fürchtet, daß sein Mangel an Zuverlässigkeit ihn um seinen Ruf bringen möchte. Dürfen Sie so reden, Sie, ein Mann von Geist, Kenntnissen und guten Sitten? Welch schlimmes Urteil würde die Welt fällen, wenn sie solche üblen Ausreden erführe? Sie sagen ferner, jetzt wären Sie niemandem Rechenschaft über Ihr Tun und Lassen schuldig. Sind Sie denn nicht verantwortlich vor der Öffentlichkeit, deren durchdringendem Blick nichts entgeht? Sie wird Sie entweder der Trägheit oder der Fühllosigkeit zeihen, wird sagen, daß Sie Ihre Fähigkeiten brach liegen lassen, daß Sie Ihre Talente vergraben, daß Sie, gleichgültig gegen Ihre Mitmenschen, nichts als Eigenliebe kennen. Sie fügen hinzu, Sie brauchten sich nicht zu Diensten zu bequemen, da Sie reich wären. Ich gebe zu, Sie brauchen kein Tagelöhner zu sein, um Ihr Dasein zu fristen. Aber gerade weil Sie reich sind, haben Sie mehr als irgend jemand die Pflicht, Ihrem Vaterlande Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu beweisen, indem Sie ihm mit Liebe und Eifer dienen. Je weniger Sie es nötig haben, um so größer ist Ihr Verdienst. Die Leistungen der einen entspringen aus ihrer Dürftigkeit, die der andren sind unentgeltlich.

Ferner füllen Sie mir die Ohren mit alten, abgedroschenen Redensarten, daß Verdienst wenig Anerkennung und noch seltener Lohn fände, daß Sie nach langem Aufwand von Sorgen und Mühen in Ihrem Amte doch Gefahr liefen, zurückgesetzt zu werden, ja wohl gar schuldlos in Ungnade zu fallen. Hierauf wird mir die Antwort sehr leicht. Ich bin überzeugt. Sie besitzen Verdiensie: machen Sie sie bekannt! Vernehmen Sie, daß edle Taten in unsrem Jahrhundert so gut Beifall finden, wie in früheren Zeiten. Die ganze Welt stimmt in das Lob des Prinzen Eugen ein; noch heute bewundert man seine Talente, seine Tugenden und Großtaten. Als der Marschall von Sachsen den ruhmreichen Feldzug von Laveld (1747) beendet hatte293-1, bezeigte ihm ganz Paris seine Dankbarkeit. Nie vergißt Frankreich, was es dem Kriegsminster Colbert verdankt. Das Andenken dieses großen Mannes wird länger bestehen als das Louvre. England rühmt sich eines Newton, Deutschland eines Leibniz. Wollen Sie neuere Beispiele? Preußen achtet und ehrt den Namen seines Großkanzlers Cocceji, der seine Gesetze so weise erneuert hat293-2. Und was soll ich erst von so vielen großen Männern sagen, deren Verdiensten man Denkmäler auf öffentlichen Plätzen in Berlin errichtet hat293-3? Hätten diese berühmten Toten so gedacht wie Sie, die Nachwelt hätte nie von ihrem Dasein erfahren.

Sie setzen hinzu, es bewürben sich so viele um Ämter, daß es unnütz wäre, in ihre Reihen zu treten. Hier liegt der Fehler Ihrer Beweisführung. Dächte alle Welt wie Sie, so blieben notwendig alle Stellen leer und folglich alle Ämter unbesetzt.<294> Ihre Grundsätze würden also bei allgemeiner Befolgung unerträgliche Mißstände in der Gesellschaft hervorrufen. Nehmen wir schließlich an, Sie hätten treulich Ihres Amtes gewaltet und fielen durch eine schreiende Ungerechtigkeit in Ungnade. Bliebe Ihnen da nicht ein großer Trost im Zeugnis Ihres guten Gewissens, das Ihnen für alles andre Ersatz zu bieten vermag, ganz abgesehen davon, daß die öffentliche Meinung Ihnen Gerechtigkeit widerfahren ließe?

Wenn Sie wollen, führe ich Ihnen eine Menge von Beispielen großer Männer an, deren Ruhm durch ihr Unglück nicht geschmälert, sondern vielmehr gesteigert wurde. Hier einige Beispiele aus Republiken. Im Kriege des Xerxes gegen die Griechen rettete Themistokles zweimal die Athener, indem er sie bewog, ihre Mauern zu verlassen, und indem er die berühmte Seeschlacht von Salamis gewann. Dann erneuerte er die Mauern seiner Vaterstadt und legte den Piräushafen an. Trotzdem ward er durch das Scherbengericht verbannt. Er ertrug sein Mißgeschick mit Seelengröße, und sein Ruf litt darunter nicht nur nicht, sondern nahm noch zu, und sein Name wird in der Geschichte oft neben denen der größten Männer genannt, die Griechenland hervorbrachte. Aristides, mit dem Beinamen der Gerechte, erfuhr fast das gleiche Schicksal. Er wurde verbannt, dann zurückgerufen, aber stets wegen seiner Weisheit geschätzt. Ja, nach seinem Tode setzten die Athener seinen unbemittelten Töchtern einJahresgehalt aus. Soll ich Sie noch an den unsterblichen Cicero erinnern, der durch Ränke verbannt wurde, nachdem er das Vaterland gerettet hatte? Soll ich Sie an all die Gewalttaten erinnern, die sein Feind Clodius gegen ihn und seine Angehörigen verübte? Trotzdem rief ihn das römische Volk einstimmig zurück. Er selbst spricht sich folgendermaßen darüber aus: „Ich wurde nicht allein zurückgerufen; meine Mitbürger trugen mich gleichsam auf ihren Schultern nach Rom zurück, und meine Heimkehr in die Vaterstadt war ein wahrer Triumph.“294-1

Unglück kann den Weisen nicht erniedrigen; denn es kann ebenso leicht gute wie schlechte Bürger treffen. Nur Verbrechen, die wir begehen, entehren uns. Also, statt Beispiele verfolgter Tugend als Zügel zu brauchen und sich durch sie abhalten zulassen, sich auszuzeichnen, lassen Sie sich lieber durch meinen Sporn dazu antreiben! Ich ermuntere Sie, Ihre Pflichten zu erfüllen, Ihre guten Eigenschaften an den Tag zu legen, durch Taten zu beweisen, daß Sie für das Vaterland ein dankbares Herz haben, kurz, die Laufbahn des Ruhmes einzuschlagen, die Sie zu betreten würdig sind. Ich verlöre Zeit und Mühe, überzeugte ich Sie nicht, daß meine Ansichten richtiger sind als die Ihren und allein einem Manne Ihrer Herkunft geziemen. Ich liebe mein Vaterland mit Herz und Seele. Meine Erziehung, mein Hab und Gut, mein Dasein — alles verdanke ich ihm. Hätte ich tausend Leben, ich würde sie alle mit Freuden opfern, wenn ich ihm dadurch einen Dienst erweisen oder meine Dankbarkeit bezeigen könnte. Mein Freund Cicero sagt in einem seiner Brefe: „Ich glaube niemals dankbar<295> genug sein zu können.“ Ich gestatte mir, wie er zu denken und zu fühlen, und ich wage zu hoffen, Sie werden nach reiflicher Erwägung aller dargelegten Gründe einer Meinung mit mir über das Verhalten eines Ehrenmannes sein und wir werden einander ermuntern, die Pflichten eines guten Bürgers zu erfüllen, der mit zärtlicher Liebe an seinem Vaterland hängt und von patriotischem Eifer erglüht.

Sie haben mir Einwendungen gemacht, die ich widerlegen mußte. Ich war außerstande, so viele Dinge in weniger Worte zu fassen. Finden Sie meinen Brief zu lang, so bitte ich um Entschuldigung. Sie werden mir hoffentlich Verzeihung gewähren in Anbetracht der aufrichtigen Freundschaft, mit der ich bin usw.

7. Brief des Anapistemon

Ich muß gestehen, lieber Freund, daß Sie mir stark zusetzen. Nicht die geringste Kleinigkeit lassen Sie mir durchgehen. Zur Zerstörung einiger kleiner Schlußfolgerungen, die ich nach Kräften zu verteidigen suche, fahren Sie schweres Geschütz auf, das in meine armen Beweisgründe Bresche schießt, und stellen das Feuer nicht eher ein, als bis meine zerstörten und eingestürzten Verteidigungswerke Ihnen kein Ziel mehr bieten. Ja, Sie haben es beschlossen, ich soll mit aller Gewalt mein Vaterland lieben, ihm dienen und anhängen, und Sie bedrängen mich derart, daß ich fast nicht mehr weiß, wie ich Ihnen entkommen soll.

Indes hat man mir von irgend einem Enzyklopädisten erzählt, nach dessen Worten die Erde der gemeinsame Wohnsitz aller Menschen ist und der Weise ein Weltbürger, der sich überall wohl befindet295-1. Vor einiger Zeit hörte ich einen Gelehrten dies Thema erörtern. Alles, was er sagte, nahm mein Geist mit solcher Leichtigkeit auf, als hätte ich es selber gedacht. Diese Ideen erhoben meine Seele. Meine Eitelkeit gefiel sich in dem Gedanken, daß ich mich nicht mehr als unbekannten Untertan eines kleinen Staates, sondern fortan als Weltbürger betrachten könnte. Ich wurde alsbald Chinese, Engländer, Türke, Franzose und Grieche, wie es meiner Laune gefiel. Ich versetzte mich im Geiste bald in das eine, bald in das andre Volk und verweilte bei dem, das mir am meisten zusagte.

Aber mir ist, als hörte ich Sie schon. Sie möchten auch diesen holden Traum zerstören. Er ist leicht zu verscheuchen, allein was gewinne ich dabei? Ist schöner Trug nicht besser als traurige Wahrheiten, die uns anwidern? Ich weiß, wie schwer man Sie von Ihren Meinungen abbringt. Sie wurzeln in so festen Gründen,<296> sind durch so viele Beweise in Ihrem Geiste verankert, daß ich umsonst versuchen würde, sie zu entwurzeln. Ihr Leben ist eine beständige Betrachtung; das meine stießt sanft dahin. Ich begnüge mich mit dem Genießen, überlasse das Nachdenken andren und bin zufrieden, wenn es mir gelingt, mich zu unterhalten und zu zerstreuen. Eben dadurch haben Sie soviel vor mir voraus, besonders bei der Erörterung schwieriger Fragen, die viele Gedankenverknüpfungen erfordern. Ich bin also darauf gefaßt, daß Sie mit Ihrem ganzen Rüstzeug gegen meine letzten Verschanzungen vorgehen werden. Ich sehe voraus, daß ich mein Unabhängigkeitssystem werde aufgeben müssen, in dem ich mich so bequem eingerichtet hatte. Ihre zwingenden Beweise werden mich nötigen, einen neuen Lebensplan zu entwerfen, der besser als der bisher von mir verfolgte den Pflichten meines Standes entspricht.

Allein es entstehen immerfort neue Zweifel in meinem Geiste. Sie sind der Arzt, dem ich die Leiden meiner Seele anvertraue; Ihr Amt ist es, sie zu heilen. Sie sprachen mir von einem Gesellschaftsvertrag; niemand hat mich davon unterrichtet. Wenn dieser Vertrag besieht, ich habe ihn nicht unterschrieben. Nach Ihrer Ansicht habe ich Pflichten gegen die Gesellschaft; ich weiß nichts davon. Ich soll eine Schuld abzutragen haben: an wen? An das Vaterland. Für welches Kapital? Ich ahne es nicht. Wer hat mir dies Kapital geliehen? Wann? Wo ist es? Indes gebe ich Ihnen zu, wenn alle Welt müßig ginge und nichts täte, müßte unser Geschlecht notwendig zugrunde gehen. Allein das ist nicht zu befürchten; denn die Not zwingt den Armen zur Arbeit, und es hat nichts weiter auf sich, wenn ein Reicher sich ihr entzieht. Nach Ihren Grundsätzen wäre in der Gesellschaft alles tätig, jeder handelte, jeder arbeitete. Ein solcher Staat gliche einem Bienenkorbe, wo jede Biene ihre Beschäftigung hat. Die eine gewinnt den Saft aus den Blumen, die andre knetet Wachs in den Zellen, eine dritte dient der Fortpflanzung der Art, und es gibt keine unsühnbare Sünde außer dem Müßiggang.

Sie sehen, ich gehe ehrlich zu Werke. Ich verhehle Ihnen nichts, ich gestehe Ihnen alle meine Zweifel. Es fällt mir schwer, mich so rasch von meinen Vorurteilen zu trennen, wenn es welche sind. Die Gewohnheit, die Tyrannin der Menschen, hat mir eine gewisse Lebensart beigebracht, an der ich hänge. Vielleicht müßte ich mich erst mit den neuen Ideen vertrauter machen, die Sie mir darlegen. Ich gestehe, mir widerstrebt es noch etwas, mich unter das Joch zu beugen, das Sie mir aufbürden wollen. Der Verzicht auf meine Ruhe, die Überwindung meiner Trägheit kostet mir schwere Anstrengungen. Die unaufhörliche Beschäftigung mit fremden Angelegenheiten, die Plackerei um das öffentliche Wohl schreckt mich ab. Aristides, Themistokles, Cicero und Regulus sind freilich Beispiele von Seelengröße und Hochherzigkeit, die die Welt anerkannt hat. Aber wieviel Mühe ist nötig, um ein wenig Ruhm zu erkaufen! Man erzählt, Alexander der Große habe nach einem seiner Siege ausgerufen: „O Athener, wenn Ihr wüßtet, was es kostet, von Euch gelobt zu werden!“296-1

<297>

Sie werden mir diese Betrachtungen nicht hingehen lassen, werden sie zu weichlich und weibisch finden. Sie verlangen eine Regierung, in der alle Bürger nur Nerv und Energie sind, alle nur Tatkraft zeigen. Ich glaube, Sie dulden Ruhe nur bei Schwachsinnigen, Kranken, Blinden und Greisen. Da ich zu diesen nicht gehöre, so bin ich auf meine Verdammung gefaßt.

Ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß der Gegenstand, den wir erörtern, weit umfangreicher ist, als ich mir gedacht hatte. Wie viele ineinander verschlungene Zweige, wie unendlich viele Verknüpfungen sind nötig, um einen so vielgliedrigen Körper wie eine regelrechte Regierung zu bilden! Bücher gibt es nur wenige über dies Thema, und die sind auch noch von tätlicher Pedanterie. Sie haben alles ergründet und machen mir Ihre Kenntnisse zugänglich. Ihnen verdanke ich es, daß Sie mich bis auf die angedeuteten Schwierigkeiten belehrt haben. Fahren Sie bitte fort, wie Sie angefangen haben. Ich betrachte Sie als meinen Lehrer und rechne es mir zur Ehre an, Ihr Schüler zu sein.

Die Beziehungen der Bürger zueinander, die verschiedenen gesellschaftlichen Bande, die Forderungen unsrer Pfiichten — all diese Gedanken kochen und gären unaufhörlich in meinem Kopfe. Ich denke an fast weiter nichts mehr. Begegne ich einem Landmann, so segne ich ihn für die Beschwerden, die er erträgt, um mich zu ernähren. Sehe ich einen Schuhmacher, so danke ich ihm im Herzen für die Mühe, die er sich gibt, mir Schuhe zu machen. Geht ein Soldat vorüber, so bete ich für den tapferen Vaterlandsverteidiger. Sie haben mein Herz mitfühlend gemacht. Nun schließe ich alle meine Mitbürger dankerfüllt hinein, besonders aber Sie, der mir die Natur meiner Pfiichten erklärt und mir dadurch ein neues Vergnügen verschafft hat. Sie haben gesprochen, und die Nächstenliebe erfüllt meine Seele mit einem göttlichen Gefühl. Ich bin mit der größten Hochachtung und der vollkommensten Dankbarkeit Ihr usw.

8. Brief des Philopatros

Nein, lieber Freund, ich bekriege Sie nicht, ich ehre und achte Sie. Ich trenne Ihre Person von dem Gegenstand, der uns beschäftigt, und greife lediglich die Vorurteile und Irrtümer an, die sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen würden, gäben die Freunde der Wahrheit sich nicht die Mühe, sie zu enthüllen und der Welt die Augen zu öffnen. Ich sehe mit größter Genugtuung, daß Sie sich mit einigen meiner Meinungen vertraut zu machen beginnen. Mein System zielt einzig und allein auf das Allgemeinwohl ab; es will die Bande zwischen den Bürgern nur enger knüpfen, um sie dauerhafter zu machen. Ihr wohlverstandener Vorteil soll<298> einen wie den andren dazu anspornen, ihrem Vaterlande aufrichtig zu dienen. Sie sollen mit gleichem Eifer zum Wohle der Gesellschaft beitragen; denn je mehr sie daran arbeiten, um so besser gelingt es ihnen.

Bevor ich aber in dem fortfahre, was ich Ihnen noch zu sagen habe, muß ich erst eine neue Schwierigkeit beseitigen, die Sie über den Gegenstand unsrer Erörterung erheben.

Sie sagen, Sie wüßten nicht, worin der Gesellschaftsvertrag besiehe. Hören Sie: er entstand durch das gegenseitige HUfsbedürfnis der Menschen. Da aber keine Gemeinschaft ohne Tugend und gute Sitten bestehen kann, so mußte jeder Bürger einen Teil seines Eigennutzes dem seiner Nächsien opfern. Daraus folgt: wenn Sie nicht betrogen werden wollen, dürfen Sie selbst nicht betrügen. Wollen Sie nicht bestohlen werden, so müssen Sie selbst nicht stehlen. Verlangen Sie Hilfe in der Not, so müssen Sie selbst stets hilfsbereit sein. Wollen Sie nicht, daß jemand unnütz sei, so arbeiten Sie selbst. Soll der Staat Sie verteidigen, so tragen Sie mit Ihrem Gelde dazu bei, besser noch, durch Ihre eigne Person. Wünschen Sie die öffentliche Sicherheit, so gefährden Sie sie selbst nicht. Soll Ihr Vaterland gedeihen, so ermannen Sie sich und dienen Sie ihm mit allen Kräften!

Sie sagen ferner, niemand habe Sie über den Gesellschaftsoertrag belehrt. Das ist die Schuld Ihrer Eltern und Erzieher, die einen so wichtigen Gegenstand nicht hätten außer acht lassen dürfen. Hätten Sie jedoch nur ein wenig nachgedacht, so hätten Sie ihn leicht selbst erraten.

Sie sagen weiter: Ich weiß nicht, welche Schuld ich der Gesellschaft abzutragen habe, noch wo das Kapital ist, dessen Zinsen sie fordert. Das Kapital sind Sie, Ihre Erziehung, Ihre Eltern, Ihr Vermögen. Dies Kapital ist in Ihrem Besitz. Die Zinsen, die Sie entrichten sollen, sind, daß Sie Ihr Vaterland wie Ihre Mutter lieben und ihm Ihre Talente weihen. Indem Sie sich nützlich machen, zahlen Sie alles heim, was das Vaterland von Ihnen zu fordern das Recht hat. Ich setze hinzu: es ist gleichgültig, welche Regierungsform Ihr Vaterland hat. Alle Verfassungen sind Menschenwerk, und vollkommen ist keine. Ihre Pflichten bleiben also die gleichen; ob Monarchie oder Republik, ist einerlei.

Gehen wir weiter. Wie ich mich erinnere, erwähnt Ihr Brief den Ausspruch eines Enzyklopädisten, den man Ihnen berichtet hat. Seit einigen Jahren werden wir von solchen Werken überschwemmt. Man findet darin eine kleine Anzahl guter Dinge und einige wenige Wahrheiten; der Rest scheint mir ein Haufen von Aberwitzigkeiten und leichtfertig vorgebrachten Ideen, die man erst hätte prüfen und verbessern müssen, ehe man sie dem Urteil der Öffentlichkeit unterbreitete. In gewissem Sinne trifft es zu, daß die Erde der Wohnsitz der Menschen ist, wie die Luft den Vögeln, das Wasser den Fischen gehört und das Feuer den Salamandern — wenn es welche gäbe. Aber es verlohnte sich nicht, einen solchen Gemeinplatz mit so großer Emphase zu verkünden.

<299>

Sie sagen ferner, nach den Enzyklopädisten sei der Weise ein Weltbürger. Zugegeben, wenn der Verfasser damit meint, alle Menschen seien Brüder und müßten einander lieben. Aber ich höre auf, seine Meinung zu teilen, wenn es seine Absicht ist, Landstreicher heranzubilden, Menschen, die an nichts hängen, die aus Langeweile die Welt durchstreifen, aus Not Spitzbuben werden und schließlich hier oder dort für ihr zügelloses Leben bestraft werden. Dergleichen Ideen finden leicht Aufnahme und setzen sich in leichtfertigen Köpfen fest. Ihre Folgen sind dem Wohl der Gesellschaft stets zuwider. Sie führen zur Auflösung des gesellschaftlichen Verbandes; denn sie entwurzeln im Herzen der Bürger unmerklich den Eifer und die Anhänglichkeit, die sie ihrem Vaterlande schulden.

Dieselben Enzyklopädisten haben sogar die Vaterlandsliebe, zu der das Altertum uns so sehr mahnt und die jederzeit die Quelle der edelsten Handlungen war, so lächerlich gemacht, wie sie konnten. Über diesen Gegenstand urteilen sie ebenso kläglich, wie über viele andre. Sie dozieren, es gäbe kein Ding, das sich Vaterland nennt. Das sei der hohle Begriff irgend eines Gesetzgebers, der das Wort geschaffen habe, um die Bürger zu regieren. Was aber in Wirklichkeit nicht vorhanden sei, könne unsre Liebe nicht verdienen. Das nenne ich eine erbärmliche Beweisführung! Sie machen keinen Unterschied zwischen dem, was die Schulweisheit ens per se und ens per aggregationem nennt. Das eine bedeutet ein einzelnes Ding für sich, wie Mensch, Pferd, Elefant; das andre faßt mehrere zu einem Ganzen zusammen, z. B. die Stadt Paris, worunter man ihre Einwohner versieht, ein Heer, das heißt eine Menge Soldaten, ein Reich, das heißt eine zahlreiche Gesellschaft von Menschen. So heißt das Land, in dem wir zur Welt kamen, das Vaterland. Es ist also wirklich vorhanden und kein abstraktes Wesen. Es besieht aus einer Menge von Bürgern, die im selben Gesellschaftsverbande, unter den gleichen Gesetzen und Sitten leben. Da unsre Interessen mit den ihren eng verknüpft sind, schulden wir ihm Anhänglichkeit, Liebe und Dienstleistungen. Was könnten diese lauen und schlaffen Seelen antworten, was könnten alle Enzyklopädisten der Welt erwidern, wenn das Vaterland plötzlich in Person vor sie träte und sie etwa so anredete:

„Ihr entarteten, undankbaren Kinder, denen ich das Leben gab, werdet Ihr denn stets fühllos gegen die Wohltaten sein, mit denen ich Euch überhäufe? Woher stammen Eure Voreltern? Ich habe sie erzeugt. Woher nahmen sie ihre Nahrung? Aus meiner unerschöpflichen Fruchtbarkeit. Ihre Erziehung? Sie verdanken sie mir. Ihr Hab und Gut? Mein Boden hat sie geliefert. Ihr selbst seid meinem Schoß entsprossen. Kurz, Ihr, Eure Eltern, Eure Freunde, alles, was Euch aus Erden teuer ist — ich gab ihm das Dasein. Meine Gerichtshöfe schützen Euch vor Unbill, verteidigen Eure Rechte, verbürgen Euer Eigentum. Meine Polizei wacht über Eure Sicherheit. Ihr zieht durch Land und Stadt ebenso sicher vor dem Überfall von Räubern wie vor dem Dolche der Mörder. Meine Truppen schützen Euch vor den Gewalttaten, der Raubgier und den Einfällen unsrer gemeinsamen Feinde. Ich befriedige nicht nur<300> Eure unmittelbarsten Bedürfnisse, sondern verschaffe Euch auch alle Annehmlichkeiten und Bequemlichkeiten des Lebens. Wollt Ihr Euch unterrichten, so findet Ihr Lehrer aller Art. Wollt Ihr Euch nützlich machen, so harren Eurer die Ämter. Seid Ihr krank oder unglücklich, so hält meine Zärtlichkeit Hilfe für Euch in Bereitschaft. Und für alle die Wohltaten, die ich Euch täglich spende, verlange ich von Euch keinen andren Dank, als daß Ihr Eure Mitbürger von Herzen liebt und mit aufrichtiger Hingabe für alles eintretet, was ihnen ersprießlich ist. Sie sind meine Glieder, sie sind ich selbst. Ihr könnt sie nicht lieben, ohne Euer Vaterland zu lieben. Aber Eure verhärteten und ungeselligen Herzen wissen meine Wohltaten nicht zu schätzen. Ein zügelloser Wahn hat Eure Sinne umwölkt und lenkt Euch. Ihr wollt Euch von der Gesellschaft trennen, Euch absondern, alle Bande zerreißen, die Euch an mich fesseln sollen. Wo das Vaterland alles für Euch tut, wollt Ihr nichts für das Vaterland tun. Ihr seid widerspenstig gegen alle meine Liebesmühe, taub gegen alle meine Vorstellungen. Kann denn nichts Euer ehernes Herz beugen und erweichen? Geht in Euch! Laßt Euch durch den Vorteil Eurer Verwandten, Euer eignes wahres Interesse rühren! Möge Pflicht und Dankbarkeit sich dazugesellen und mögt Ihr fortan so gegen mich verfahren, wie Tugend und der Sinn für Ehre und Ruhm es von Euch fordern.“

Ich für mein Teil würde dem Vaterlande mit diesen Worten entgegeneilen: „Mein Herz ist von Liebe und Dankbarkeit durchdrungen. Ich brauchte Dich nicht zu sehen und zu hören, um Dich zu lieben! Ja, ich gestehe, daß ich Dir alles verdanke. Darum hänge ich zärtlich und unlöslich an Dir. Meine Liebe und Dankbarkeit werden erst mit meinem Tode enden. Mein Leben selbst ist Dein Eigentum. Wenn Du es zurückforderst, werde ich es Dir mit Freuden opfern. Für Dich sterben, heißt ewig im Gedächtnis der Menschen leben. Ich kann Dir nicht dienen, ohne mich mit Ruhm zu bedecken!“

Verzeihen Sie, lieber Freund, die Begeisterung, zu der mich der Eifer hinreißt. Sie sehen meine Seele unverhüllt. Wie könnte ich Ihnen auch verbergen, was ich so lebhaft fühle? Wägen Sie meine Worte, prüfen Sie alles, was ich Ihnen gesagt habe, und ich glaube, Sie werden mir zustimmen, daß nichts verständiger und tugendhafter ist als die echte Vaterlandsliebe. Lassen wir die Schwachsinnigen und Blinden aus dem Spiel: ihre Ohnmacht springt in die Augen. Was die Greise und Kranken betrifft, so können sie für das Wohl der Gesellschaft zwar nicht wirken, müssen aber für ihr Vaterland doch die gleiche zärtliche Anhänglichkeit hegen, wie Söhne für ihre Väter, an seinem Glück und Unglück teilnehmen und wenigstens für sein Wohl beten. Haben wir schon als Menschen die Pflicht, jedermann Gutes zu tun, so sind wir als Bürger erst recht gehalten, unsren Landsleuten nach besten Kräften beizustehen. Sie sind uns näher als fremde Völker, von denen wir keine oder nur geringe Kenntnis haben. Wir leben mit unsren Landsleuten. Unsre Sitten, Gesetze und Bräuche sind die gleichen. Wir atmen nicht nur die gleiche Luft, sondern teilen mit ihnen auch Glück und Unglück. Kann das Vaterland das Opfer unsres<301> Lebens von uns fordern, so kann es erst recht verlangen, daß wir uns ihm durch unsre Dienste nützlich machen: der Gelehrte durch Unterricht, der Philosoph durch Enthüllung der Wahrheit, der Finanzmann durch treue Verwaltung der Einkünfte, der Jurist, indem er der Sache die Form zum Opfer bringt, der Soldat, indem er sein Vaterland eifrig und tapfer verteidigt, der Staatsmann durch kluges Komdinieren und richtiges Schlußfolgern, der Geistliche durch Predigen der reinen Sittenlehre, der Landmann, der Handwerker, der Fabrikant, der Kaufmann durch Vervollkommnung des erwählten Berufes. Jeder Bürger, der so denkt, arbeitet für das Allgemeinwohl. Diese verschiedenen Zweige vereint und auf das gleiche Ziel gerichtet, bringen das Gedeihen der Staaten, ihr Glück, ihre Dauer und ihren Ruhm hervor. Das, lieber Freund, hat mein Herz mir in die Feder diktiert. Ich habe nicht wie ein Professor über diesen Gegenstand geschrieben; denn ich habe nicht die Ehre, ein Gelehrter zu sein, und unterhalte mich mit Ihnen einzig und allein, um Ihnen auseinanderzusetzen, was ich unter den Pflichten eines redlichen und treuen Bürgers gegen sein Vaterland versiehe. Diese flüchtige Skizze genügt für Sie, da Sie die Dinge rasch erfassen und durchdringen. Ich versichere Ihnen, ich hätte nicht so viel Papier bekritzelt, ohne die Absicht, Ihnen gefällig und dienstbar zu sein. Ich bin mit aufrichtiger Zuneigung usw.

9. Brief des Anapistemon

Ihr letzter Brief, lieber Freund, bringt mich zum Schweigen; ich bin gezwungen, mich zu ergeben. Von nun an schwöre ich meine Trägheit und Gleichgültigkeit ab. Ich entsage den Enzyklopädisten wie der Lehre Epikurs und weihe alle Tage meines Daseins dem Vaterlande. Ich will künftig Bürger sein und Ihrem löblichen Vorbild in allen Stücken folgen. Meine Fehler gestehe ich Ihnen offen ein. Ich habe mich mit unbestimmten Begriffen begnügt, habe über den Gegenstand nicht genügend nachgedacht und ihn nicht reiflich erwogen. Meine sträfliche Unwissenheit hat mich bisher an der Erfüllung meiner Pflichten gehindert. Sie leuchten mir mit der Fackel der Wahrheit ins Gesicht, und meine Irrtümer verschwinden. Ich will die verlorene Zeit nachholen, indem ich jeden durch meinen Eifer für das allgemeine Wohl übertreffe. Zum Vorbild nehme ich mir die größten Männer des Altertums, die sich im Dienste des Vaterlands ausgezeichnet haben, und nie werde ich vergessen, daß Ihr tugendsiarker Arm es war, der mir die Laufbahn erschloß, in der ich Ihren Schritten folge. Wie und wodurch könnte ich Ihnen meinen Dank für alles heimzahlen, was ich Ihnen schulde? Seien Sie wenigstens versichert, wenn etwas die Gefühle der Hochschätzung und Freundschaft, die ich für Sie hege, übertreffen kann, so ist es meine tiefe Dankbarkeit, mit der ich zeitlebens bin usw.

<302>

10. Brief des Philopatros

Sie überschütten mich mit Freude, lieber Freund! Ihr letzter Brief versetzt mich in Entzücken. Ich habe nie gezweifelt, daß eine so redliche Seele wie die Ihre der rechte Boden sei, um den Samen aller Tugenden aufzunehmen. Ich bin gewiß, das Vaterland wird die reichsten Ernten einsammeln. Die Natur hatte alles in Sie gelegt; Ihre Gefühle mußten nur aufkeimen. Wenn ich dazu beitragen durfte, bin ich stolz; denn die Bereicherung des Vaterlandes um einen guten Bürger ist mehr wert als eine Erweiterung seiner Grenzen. Ich bin usw.


280-1 Diese von J. J. Rousseau in seinem „Contrat social“ (1762) gebrauchte Bezeichnung des von der Naturrechtslehre angenommenen Vertrages kommt auch in der Abhandlung über die Regierungs, formen und Herrscherpflichten (vgl. Bd. VII, S. 225 ff.) vor.

281-1 Vgl. Bd. VII, S. 165. 215 f.

282-1 Marcus Vipsanius Agrippa, Freund und Feldherr des Kaisers Augustus; Paetus Thrasea und Helvidius Priscus, römische Senatoren, die wegen ihres lauteren Charakters von Kaiser Nero verfolgt wurden; Gnäus Domikius Corbulo, Feldherr unter den Kaisern Claudius und Nero; Gnäus Julius Agricola, Feldherr unter den Kaisern Vespasian und Domitian.

291-1 Vgl. E. 50.

291-2 Lucius Junius Brutus († 509 v. Chr.). Vgl. S. 239.

292-1 Bertrand du Guesclin (1320—1380), Connetable von Frankreich.

292-2 Georg d'Amboise (1460 bis 1510), Kardinal und Minister Ludwigs XII.

292-3 Gemeint ist Franz von Lothringen, Herzog von Guise (1519—1563), und die Eroberung von Calais (1558), das den letzten englischen Besitz in Frankreich bildete.

292-4 Vgl. S. 28.

292-5 Philipp Dormer Stanhope Lord Chesterfield (1694—1773), Staatsmann und Schriftsteller.

292-6 Vgl. Bd. IV, S. 122.

292-7 August der Jüngere (1635—1666), Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Begründer der jüngeren Wolfenbüttler Linie des braunschweigischen Hauses.

292-8 Amalie Elisabeth (1602—1651), Enkelin Wilhelms I. von Oranien, Gemahlin des Landgrafen Wilhelm V. von Hessen-Kassel, führte nach dessen Tod (1637) die Regentschaft.

293-1 Vgl. Bd. III, S. 16.

293-2 Vgl. S. 36.

293-3 Das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten auf der Kurfürstenbrücke wurde 1703 errichtet, die Statuen auf dem Wilhelmsplatz vom Feldmarschall Schwerin 1769, von Winterfeldt 1777. Später folgten die von Seydlitz (1784), Feldmarschall Keith (1786), Zielen (1794) und Fürst Leopold von Anhalt-Dessau (1800).

294-1 Oratio post reditum in senatu, Kap. XI, XV.

295-1 Die Erwähnung der Enzyklopädisten begründet der König in dem Schreiben an d'Alembert vom 3. Dezember 1779 mit den Worten: „Ich habe in ihren Werten gelesen, daß die Vaterlandsliebe ein Vorurteil sei.“

296-1 Plutarch, Leben Alexanders, Kap. 60.