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Gedächtnisrede auf Voltaire
Gelesen in der Akademie am 26. November 1778



Meine Herren!

In allen Zeitaltern, besonders bei den geistvollsten und gebildetsten Völkern, sind Männer von hoher und seltner Begabung schon während ihres Lebens geehrt worden, noch mehr aber nach ihrem Tode. Man betrachtete sie wie Phänomene, die ihren Glanz über ihr Vaterland verbreiteten. Die ersten Gesetzgeber, die die Menschen lehrten, in Gesellschaft zu leben, die ersten Helden, die ihre Mitbürger verteidigten, die Philosophen, die in die Abgründe der Natur hinabdrangen und einige Wahrheiten entdeckten, die Dichter, die die Großtaten ihrer Zeitgenossen der Nachwelt überlieferten, sie alle wurden wie höhere Wesen angesehen; man glaubte sie von der Gottheit besonders erleuchtet. Daher kam es, daß man dem Sokrates Altäre errichtete, daß Herakles für einen Gott galt, daß Griechenland den Orpheus verehrte und daß sieben Städte sich um den Ruhm stritten, die Heimat Homers zu sein. Das Volt von Athen, das die beste Erziehung besaß, wußte die Ilias auswendig und ehrte in ihren Gesängen pietätvoll den Ruhm seiner alten Helden. Auch Sophokles, der die Palme auf dem Theater errang, stand wegen seiner Talente in hohem Ansehen, ja der athenische Staat bekleidete ihn mit den höchsten Würden. Jedermann weiß, wie hoch Äschines, Perikles und Demosthenes geschätzt wurden, und daß Perikles dem Diagoras zweimal das Leben rettete, einmal, als er ihn vor der Wut der Sophisten schützte, das zweitemal, indem er ihn durch seine Wohltaten<233> unterstützte. Wer immer in Griechenland Talente besaß, war sicher, Bewunderung, ja selbst Begeisterung zu finden. Das war die mächtige Anregung, die Talente entwickelte und den Geistern jenen Aufschwung gab, durch den sie sich über die Schranken der Mittelmäßigkeit erhoben. Welch ein Stachel des Wetteifers für die PHUosophen, als sie erfuhren, daß Philipp von Mazedonien den Aristoteles als einzig würdigen Lehrer Alexanders erkoren hatte! In jenem schönen Zeitalter fand jedes Verdienst seinen Lohn, jedes Talent seine Ehren. Die guten Schriftsteller wurden ausgezeichnet. Die Werke des Thukydides und Xenophon befanden sich in aller Händen; kurz, jeder Bürger schien teilzuhaben an der Berühmtheit jener großen Geister, die Griechenlands Ruf damals über den aller übrigen Völker er, hoben.

Bald nachher liefert uns Rom ein ähnliches Schauspiel. Cicero schwingt sich durch seinen philosophischen Geist und seine Beredsamkeit auf den Gipfel des Ruhmes. Lukrez lebte nicht lange genug, um seinen Ruf zu genießen. Aber Virgil und Horaz wurden durch den Beifall jenes königlichen Volkes geehrt, standen in vertrautem Verkehr mit Augustus und hatten Teil an den Belohnungen, die dieser geschickte Tyrann über alle ausschüttete, die seine Tugenden priesen und seine Lasier beschönigten.

Zu der Zeit, da die Wissenschaften im Abendlande wieder aufblühten, gedenkt man mit Freuden der Medizäer und einiger Päpste, die sich eifrig der Schriftsteller annahmen. Man weiß, daß Petrarca als Dichter gekrönt wurde und daß Tasso nur durch seinen Tod um die Ehre kam, auf demselben Kapitol gekrönt zu werden, wo dereinst die Besieger der Welt triumphiert hatten.

Ludwig XIV., der nach jeder Art von Ruhm dürstete, vergaß auch den Ruhm nicht, die außerordentlichen Männer zu belohnen, die unter seiner Regierung auftraten. Er überhäufte nicht nur Bossuet, Fenelon, Racine und Boileau mit Wohltaten, sondern dehnte seine Freigebigkeit auch auf alle Schriftsteller aus, in welchem Lande sie auch wohnten, wenn nur ihr Ruf bis zu ihm gedrungen war.

So handelten alle Zeitalter gegen jene glücklichen Geister, die das Menschengeschlecht zu adeln scheinen, deren Werke uns erquicken und uns über das Elend des Lebens hinwegtrösien. Es ist also nur recht und billig, daß wir den Manen des Großen, dessen Verlust Europa betrauert233-1, den Tribut des Lobes und der Bewunderung zollen, den er so sehr verdient hat.

Wir gedenken nicht, auf die Einzelheiten von Voltaires Privatleben einzugehen. Die Geschichte eines Königs soll in der Aufzählung der Wohltaten bestehen, die er seinem Volke angedeihen ließ, die eines Kriegsmannes in seinen Feldzügen, die eines Schriftstellers in der Darlegung seiner Werke. Anekdoten können die Neugierde unterhalten; Taten unterrichten. Doch es ist unmöglich, die Fülle der Werke, die wir der Fruchtbarkeit Voltaires danken, im einzelnen zu prüfen. Nehmen Sie also,<234> meine Herren, mit der flüchtigen Skizze fürlieb, die ich Ihnen davon entwerfen will, und lassen Sie mich die Hauptereignisse seines Lebens nur kurz berühren. Es hieße Voltaire entehren, wollte ich Gewicht auf Nachforschungen legen, die nur seine Herkunft betreffen. Im Gegensatz zu denen, die ihren Vorfahren alles und sich selber nichts schulden, verdankte er alles der Natur: er allein war der Schmied seines Glückes und seines Ruhmes. Es genügt zu wissen daß seine Verwandten, die Justizbeamte waren234-1, ihm eine anständige Erziehung gaben. Er studierte im Jesuitenkolleg Ludwigs des Großen unter den Vätern Poree und Tournemine, die zuerst die Funken des glänzenden Feuers entdeckten, das seine Werke erfüllt.

Obwohl noch jung, wurde Voltaire nicht wie ein gewöhnliches Kind angesehen. Sein Geistesschwung hatte sich schon offenbart. Dadurch kam er in das Haus der Frau von Rupelmonde. Die Dame war entzückt von der Lebhaftigkeit seines Geistes und den Talenten des jungen Dichters. Sie führte ihn in die beste Pariser Gesellschaft ein. Die große Welt wurde für ihn zur Schule, in der er seinen Geschmack und den feinen Takt erwarb, die Gewandtheit und Höflichkeit des Benehmens, die jene weltfremden Gelehrten nie erreichen, weil sie kein Urteil darüber haben, was in der guten Gesellschaft gefallen kann, die ihrem Blick zu entrückt ist, um sie kennen zu können. Diesem Tone der guten Gesellschaft, dieser funkelnden Glätte verdanken Voltaires Werke ihre Beliebtheit.

Schon waren seine Tragödie „Ödipus“234-2 und einige liebenswürdige Gesellschaftsgedichte in die Öffentlichkeit gedrungen, als in Paris eine anstößige Verssatire gegen den Herzog von Orleans, den damaligen Regenten von Frankreich, erschien234-3. Ein gewisser La Grange, Verfasser dieses dunklen Machwerks, wußte den Verdacht von sich abzulenken, indem er es für ein Werk Voltaires ausgab. Die Regierung handelte übereilt. Der junge Dichter wurde unschuldig verhaftet und in die Bastille gesteckt, wo er mehrere Monate blieb234-4. Da aber die Wahrheit früher oder später doch ans Licht kommt, so wurde der Schuldige bestraft und Voltaire als gerechtfertigt freigelassen.

Meine Herren, würden Sie es für möglich halten, daß es just die Bastille war, in der unser junger Dichter die ersten beiden Gesänge seiner „Henriade“ schrieb? Und doch ist es so. Sein Gefängnis ward ihm zum Parnaß, wo die Musen ihn begeisterten. Sicher ist, daß der zweite Gesang so geblieben ist, wie er ihn zuerst entwerfen. In Ermangelung von Papier und Tinte lernte er die Verse auswendig und behielt sie im Gedächtnis.

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Bald nach seiner Freilassung zog er sich, aufgebracht durch die unwürdige Behandlung und den Schimpf, den er in seinem Vaterlande erduldet hatte, nach England zurück235-1, wo er nicht nur die günstigste Aufnahme beim Publikum fand, sondern sich auch bald begeisterte Anhänger warb. In London legte er die letzte Hand an seine „Henriade“, die er damals unter dem Titel „Poème de la Ligue“ veröffentlichte235-2.

Unser junger Dichter, der während seines Aufenthalts in England alles zu nutzen wußte, warf sich besonders auf das Studium der Philosophie. Damals blühten die weisesten und tiefsten Philosophen. Er ergriff den Faden, an dem sich der vorsichtige Locke durch das Labyrinth der Metaphysik getastet hatte, zügelte seine feurige Einbildungskraft und unterwarf sich den mühseligen Berechnungen des unsterblichen Newton. Ja, er eignete sich die Entdeckungen dieses Philosophen derart an und machte solche Fortschritte, daß er das System des großen Mannes in einer kurzen Abhandlung so klar darstellte, daß es für jedermann faßlich wurde235-3. Vor ihm war Fontenelle der einzige Philosoph gewesen, der Blumen auf die trockne Astronomie gestreut und sie zum Zeitvertreib des schönen Geschlechts gemacht hatte. Den Engländern schmeichelte es, daß ein Franzose ihre Philosophen nicht nur bewunderte, sondern sie auch in seine Sprache übersetzte. Die vornehmste Welt Londons drängte sich, ihn zu besitzen. Nie fand ein Fremder bei dieser Nation günstigere Aufnahme. Aber so schmeichelhaft der Triumph auch für seine Eigenliebe war, die Liebe zum Vaterlande siegte im Herzen unsres Dichters, und er kehrte nach Frankreich zurück (1729).

Durch den Beifall aufgeklärt, den ein so ernstes und kluges Volk wie die Engländer dem jungen Schriftsteller gespendet hatte, begannen die Pariser zu ahnen, daß ein großer Mann in ihrer Mitte geboren war. Nun erschienen die „Lettres sur les Anglais“235-4, die mit raschen, kräftigen Strichen die Sitten, den Kunstfleiß, die Religion und die Regierung des englischen Volkes schildern. Die Tragödie „Brutus“, höchst geeignet, diesem freien Volke zu gefallen, folgte bald nach, ebenso „Mariamne“235-5 und eine Menge andrer Stücke.

Damals lebte in Frankreich eine durch ihre Neigung zu Kunst und Wissenschaft berühmte Dame. Sie erraten wohl, meine Herren, wir meinen die Marquise du Châtelet. Sie hatte die philosophischen Werke des jungen Autors gelesen; bald machte sie auch seine Bekanntschaft (1733). Das Verlangen, sich zu unterrichten, und der leidenschaftliche Wunsch, die wenigen Wahrheiten zu ergründen, die im<236> Bereiche des menschlichen Geistes liegen, knüpfte die Bande ihrer Freundschaft unlöslich. Sofort gab Frau von Chatelet die „Theodicee“ von Leibniz und die geistvollen Phantasiegebilde dieses Philosophen236-1 auf, um an ihrer Statt die vorsichtige und besonnene Methode Lockes anzunehmen, die weniger die heftige Wißbegier als die strenge Vernunft befriedigte. Sie lernte so viel Mathematik, um Newton in seinen abstrakten Berechnungen folgen zu können. Ja, ihr Fleiß war so beharrlich, daß sie einen Auszug seines Systems zum Gebrauch ihres Sohnes verfaßte236-2. Cirey wurde bald die philosophische Zufluchtsstätte beider Freunde. Dort schrieben sie jeder für sich Werke verschiedener Art, die sie sich mitteilten, indem sie sich bemühten, ihren Erzeugnissen durch gegenseitige Kritik den höchsten erreichbaren Grad von Vollkommenheit zu geben. Dort entstanden „Zaire“ (1732), „Alzire“ (1734/36), „Mérope“ (1737), „Sémiramis“ (1748), „Catilina“ (1749), „Électre ou Oreste“ (1749).

Voltaire, dessen Tätigkeit alles umfaßte, beschränkte sich nicht allein auf das Ver, gnügen, das Theater durch seine Tragödien zu bereichern. Er verfaßte eigens für den Gebrauch der Marquise von Chatelet seinen „Essai sur l'histoire universelle“236-3. Das „Zeitalter Ludwigs XIV.“236-4 und die „Geschichte Karls XII.“236-5 waren bereits erschienen.

Einen so genialen Schriftsteller, der ebenso vielseitig wie korrekt war, ließ die französische Akademie sich nicht entgehen. Sie forderte ihn als ein ihr gehöriges Eigentum. Er wurde Mitglied dieser erlauchten Körperschaft (1746) und eine ihrer schönsten Zierden. Auch Ludwig XV. zeichnete ihn aus, indem er ihn zum Kammer, Herrn (1746) und zum Historiographen Frankreichs (1745) ernannte, was er eigentlich durch seine Geschichte Ludwigs XIV. schon war.

Obwohl Voltaire für so glänzende Ehrungen empfänglich war, sprach das Gefühl der Freundschaft doch noch stärker in ihm. Unauflöslich mit Frau von Chatelet verbunden, ließ er sich durch den Glanz eines großen Hofes nicht blenden und zog den Aufenthalt in Luneville236-6, mehr noch die ländliche Abgeschiedenheit von Cirey der Pracht von Versailles vor. Dort genossen beide Freunde friedlich das den Menschen zugemessene Glück, bis der Tod der Marquise von Chatelet (10. September 1749) ihrem schönen Bund ein Ziel setzte. Das war ein furchtbarer Schlag für Voltaires Zartgefühl. Er mußte seine ganze Philosophie zu Hilfe rufen, um ihm zu widerstehen.

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Gerade zu der Zeit, wo er alle Kräfte anspannte, um seinen Schmerz zu bezwingen, wurde er an den preußischen Hof berufen. Der König, der ihn im Jahre 1740 gesehen hatte237-1, wünschte dies hervorragende und seltene Genie zu besitzen. Im Jahre 1750 kam Voltaire nach Berlin237-2. Seine Kenntnisse waren umfassend, seine Unterhaltung ebenso belehrend wie angenehm, seine Einbildungskraft ebenso glänzend wie vielseitig, sein Geist rasch im Erfassen und stets schlagfertig. Er verschönte die Trockenheit eines Gegenstands durch die Anmut der Darstellung; kurz, er war das Entzücken aller Gesellschaften. Ein unglücklicher Streit, der zwischen ihm und Maupertuis ausbrach237-3, entzweite diese beiden Geister, die dazu geschaffen waren, sich zu lieben, nicht aber, sich zu hassen237-4. Der Ausbruch des Siebenjährigen Krieges erweckte bei Voltaire den Wunsch, seinen Aufenthalt in der Schweiz zu nehmen. Er ging nach Genf, dann nach Lausanne, erwarb später Les Délices237-5 und ließ sich schließlich in Ferney nieder (1759). Seine Muße war zwischen Studium und Arbeit geteilt. Er las und schrieb und beschäftigte durch die Fruchtbarkeit seines Geistes alle Buchhändler jenes Kantons.

Voltaires Gegenwart, sein sprudelnder Geist, seine mühelose Produktion versetzte seine ganze Umgebung in den Wahn, um ein großer Geist zu sein, brauchte man es nur zu wollen. Eine Art von Epidemie ergriff die Schweizer, die sonst nicht für die feinsten Köpfe gelten. Sie drückten die gewöhnlichsten Dinge nur noch in Antithesen und Epigrammen aus. Genf wurde von dieser Ansteckung am meisten befallen. Die Bürger hielten sich samt und sonders für Lykurge und hatten nicht übel Lust, ihrer Vaterstadt neue Gesetze zu geben, aber keiner wollte den bestehenden gehorchen. Diese Regungen mißverstandenen Freiheitseifers führten zu einer Art Aufruhr oder Krieg, der in die Komödie gehörte. Voltaire verfehlte nicht, das Ereignis unsterblich zu machen; er besang diesen sogenannten Krieg im Tone von Homers Froschmäusekrieg237-6.

Bald brachte seine fruchtbare Feder Theaterstücke hervor, bald vermischte philosophische und geschichtliche Aufsätze, bald allegorisch-moralische Romane. Aber während er derart die Literatur durch neue Schöpfungen bereicherte, widmete er sich zugleich der Landwirtschaft. Man sieht, wie ein guter Kopf sich auf allen möglichen Gebieten betätigen kann. Ferney war ein fast wüstes Stück Land, als unser Philosoph es erwarb. Er kultivierte es und bevölkerte es nicht allein, sondern siedelte auch viele Handwerker dort an.

Rufen wir uns nicht zu bald die Ursachen unsres Schmerzes ins Gedächtnis zurück. Lassen wir Voltaire noch ruhig in Ferney und werfen wir unterdessen einen<238> aufmerksamen und eingehenden Blick auf die Fülle seiner geistigen Erzeugnisse. Die Geschichte erzählt, Virgil habe, als er starb, seine „Äneis“ verbrennen wollen, weil er ihr nicht die gewünschte Vollendung hatte geben können. Voltaire konnte bei seinem langen Leben sein Gedicht „La Ligue“ immer wieder feilen und verbessern und ihm die Vollkommenheit geben, die es jetzt unter dem Namen der „Henriade“ erreicht hat238-1. Seine Neider warfen ihm vor, es sei nur eine Nachahmung der „Äneis“, und man muß einräumen, daß der Gegenstand mancher Gesänge Ähnlichkeiten aufweist. Aber es sind keine sklavischen Kopien. Schildert Virgil die Zerstörung Trojas, so stellt Voltaire die Greuel der Bartholomäusnacht dar. Der Liebe der Dido und des Äneas sieht die Liebe Heinrichs IV. und der schönen Gabrielle d'Estrées gegenüber. Das Hinabsteigen des Äneas in die Unterwelt, wo Anchises ihm seine Nachkommenschaft prophezeit, wird mit Heinrichs IV. Traum und der Weissagung des heiligen Ludwig verglichen, der ihm das Schicksal der Bourbonen verkündet. Wenn ich meine Meinung äußern dürfte, würde ich bei zweien dieser Gesänge den Vorzug dem Franzosen geben, nämlich bei der Schilderung der Bartholomäusnacht und dem Traume Heinrichs IV. Nur in der Liebe der Dido scheint Virgil über Voltaire den Sieg davonzutragen, weil der Lateiner fesselt und zum Herzen spricht, während der Franzose sich nur in Allegorien ergeht. Aber bei ehrlicher Prüfung beider Dichtungen, ohne Vorurteil für die Alten oder Neueren, muß man einräumen, daß viele Einzelheiten der „Äneis“ in den Werken unsrer Zeitgenossen nicht mehr geduldet würden, so z. B. das Totenopfer, das Äneas seinem Vater Anchises darbringt, die Fabel von den Harpyen, die Prophezeiung dieser Fabelwesen, die Trojaner würden noch in solche Not kommen, daß sie ihre Teller essen müßten — eine Prophezeiung, die dann später in Erfüllung geht —, das Mutterschwein mit den neun Frischlingen, das die Stätte bezeichnet, wo Äneas das Ende seiner Mühen finden soll, die Verwandlung seiner Schiffe in Nymphen, der von Askanius erlegte Hirsch, der den Krieg der Trojaner und Rutuler herbeiführt, der Haß gegen Äneas, den die Götter ins Herz der Amata und Lavinia legen, derselben Lavinia, die Äneas am Ende fteit. Vielleicht war Virgil mit diesen Fehlern selbst unzufrieden und wollte deshalb sein Werk verbrennen. Jedenfalls stellen sie nach der Meinung urteilsvoller Kunsirichter die „Äneis“ unter die „Henriade“. Wenn das Verdienst eines Autors in der Überwindung von Schwierigleiten liegt, so ist es sicher, daß Voltaire mehr zu überwinden fand als Virgil. Der Gegenstand der „Henriade“ ist die Unterwerfung von Paris durch die Bekehrung Heinrichs IV. Der Dichter konnte also den Wunderapparat nicht nach Belieben benutzen; er sah sich auf die christlichen Mysterien beschränkt, die weniger reich an lieblichen und malerischen Bildern sind als die Mythologie der Heiden. Gleichwohl kann man bei der Lektüre des X. Gesanges der „Henriade“ nicht umhin, zu gestehen,<239> daß der Zauber der Dichtung jeden Gegenstand zu veredeln vermag. Voltaire war der einzige, der mit seiner Dichtung unzufrieden war. Er fand, sein Held hätte weniger große Gefahren zu bestehen als Äneas und könne darum nicht so fesseln wie dieser, der aus einer Gefahr stets in die nächste gerät.

Prüft man ebenso unparteiisch die Tragödien Voltaires, so wird man zugeben, daß er hier und da Racine übertrifft, an andrer Stelle aber hinter dem berühmten Dramatiker zurücksieht. Sein erstes Theaterstück war „Ödipus“. Seine Phantasie war damals erfüllt von den Schönheiten des Sophokles und Euripides, und sein Gedächtnis gemahnte ihn fortwährend an die flüssige Eleganz Racines. Dank diesem doppelten Vorzug wirkte sein Stück auf der Bühne als Meisterwerk. Einige wohl zu strenge Kritiker fanden daran zu tadeln, daß die fast erloschene Leidenschaft der alten Jokaste in Gegenwart des Philoktet wieder aufflammt. Hätte der Dichter aber die Rolle des Philottet beschnitten, so hätte er uns die Freude an den Schönheilen genommen, die der Gegensatz zwischen dem Charakter des Philottet und des Ödipus zeitigt. Seinen „Brutus“ hielt man für passender auf der Londoner als auf der Pariser Bühne; denn in Frankreich wird ein Vater, der seinen Sohn kalt, blutig zum Tode verurteilt, als Barbar gelten, während in England ein Konsul, der sein eignes Fleisch und Blut der Freiheit des Vaterlandes opfert, als Gott an, gesehen wird. Seine „Mariamne“ und eine Anzahl andrer Stücke zeugen noch für die Kunst und die Fruchtbarkeit seines Schaffens. Jedoch darf man sich nicht verhehlen, daß manche, vielleicht zu strenge Kritiker unsrem Dichter vorwerfen, der Bau seiner Tragödien reiche an die Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit der Racineschen nicht heran. Bei der Aufführung von „Iphigenie“, „Phädra“ und „Athalie“, sagen sie, entwickelt sich die Handlung ungezwungen vor unsren Augen, wogegen man sich bei der Aufführung der „Zaire“ über die Wahrscheinlichkeit hinwegsetzen und gewisse auffällige Fehler übersehen muß. Der zweite Akt fällt nach ihrer Meinung aus dem Ganzen heraus. Man muß das Geschwätz des alten Lusignan über sich ergehen lassen, der in seinen Palast zurückgekehrt ist, aber nicht weiß, wo er sich befindet, und von seinen früheren Waffentaten spricht, wie ein Oberstleutnant vom Regiment Navarra, der Gouverneur von Péronne geworden ist. Man weiß nicht recht, wie er seine Kinder wiedererkennt. Um seine Tochter zum Christentum zu bekehren, erzählt er ihr, sie sei auf dem Berge, wo Abraham seinen Sohn Isaak dem Herrn opferte oder opfern wollte. Er redet ihr zu, sich taufen zu lassen, nachdem Chatillon bezeugt hat, daß er sie selbst getauft habe — und das ist der Knoten des Stückes! Nach dieser kalten und matten Handlung stirbt Lusignan am Schlagfluß, ohne daß irgend jemand an seinem Schicksal Anteil nimmt. Da die Handlung des Stückes einen Priester und ein Sakrament nötig machte, hätte die Taufe wohl durch die Kommunion ersetzt werden können. So begründet aber auch diese Einwendungen sein mögen, man verliert sie im fünften Akt aus den Augen: das Interesse, die Furcht und das Mitleid, die der große Dichter so meisterlich zu erregen weiß, reißen<240> den Zuschauer hin, und von gewaltigen Leidenschaften erschüttert, vergißt er über so großen Schönheiten kleine Mängel. Man wird also einräumen, daß Racine den Vorzug größerer Natürlichkeit und Wahrscheinlichkeit im Bau seiner Dramen hat, daß in seiner Versgestaltung eine ununterbrochene Eleganz, Weichheit und Flüssigkeit herrscht, die bis jetzt kein Dichter annähernd erreicht hat. Andrerseits muß man zu, geben, daß Voltaire, von einigen epischen Breiten in seinen Stücken und vom fünften Akt seines „Catilina“ abgesehen, die Spannung von Szene zu Szene, von Aufzug zu Aufzug bis zur Katastrophe kunstvoll zu steigern versieht, und das ist der Gipfel der Kunst.

Sein Universalgenie umfaßte jede Kunstart. Nachdem er es mit Birgit auf, genommen und ihn vielleicht übertroffen hatte, wollte er sich mit Ariost messen. Er verfaßte die „Pucelle“ im Stil des „Rasenden Roland“, jedoch ohne ihn nachzuahmen. Die Fabel, die Wundergeschichten, die Episoden — alles darin ist Original, alles atmet die Heiterkeit einer glänzenden Einbildungskraft.

Seine Gesellschaftsgedichte bildeten das Entzücken aller Leute von Geschmack. Der Verfasser selbst gab nicht viel darauf, wiewohl weder Anakreon, noch Horaz,. Ovid und Tibull, noch die andren Schöngeister des Altertums uns irgend ein Muster in dieser Gattung hinterlassen haben, das er nicht erreicht hätte. Sein Geist gebar diese Werke mühelos; das befriedigte ihn nicht. Er glaubte, ein wohlverdienter Ruf müsse durch Überwindung der größten Hindernisse erworben werden.

Nachdem wir in Kürze die Talente des Dichters aufgezählt haben, gehen wir zu denen des Historikers über. Die „Geschichte Karls XII.“ (1731) war sein erstes Geschichtswerk. Er wurde der Quintus Curtius dieses Alexanders240-1. Die Blumen, die er über seinen Stoff ausstreut, verändern die Grundlage der Wahrheit nicht. In den leuchtendsten Farben malt er die glänzende Tapferkeit des nordischen Helden, seine Festigkeit bei manchen Gelegenheiten, seinen Starrsinn bei andren, sein Glück und Unglück. Nachdem er seine Kräfte an Karl XII. versucht hatte, wagte er sich an die Geschichte des „Zeitalters Ludwigs XIV.“ (1751). Hier finden wir nicht mehr den romanhaften Stil des Quintus Curtius, sondern den Stil des Cicero, dessen Rede Pro lege Manilia240-2 zur Lobrede auf Pompejus wird. Als Franzose hebt er mit Begeisierung die berühmten Ereignisse jenes großen Zeitalters hervor und setzt die Vorzüge ins hellste Licht, die seinem Volke damals das Übergewicht über die andren Nationen gaben: die Fülle großer Geister, die unter der Regierung Ludwigs XIV. erstanden, die Herrschaft der Künste und Wissenschaften unter dem Schutze eines so glänzenden Hofes, die Fortschritte des Gewerbfieißes aller Art und die innere Kraft Frankreichs, die den König gleichsam zum Schiedsrichter Europas machte. Dies einzig dastehende Werk mußte Voltaire die Zuneigung und Dankbarkeit des ganzen französischen Volkes erwerben, dem er mehr Ansehen verschaffte als irgend ein andrer<241> französischer Schriftsteller. In seinem „Versuch über die Weltgeschichte“241-1 wechselt der Stil abermals: er ist schlicht und kraftvoll. Seine Geistesart offenbart sich in der Weise, wie er die Geschichte behandelt, besser als in seinen übrigen Schriften. Man merkt darin die Überlegenheit eines Geistes, der alles im großen sieht, sich nur an das Bedeutende hält und die Kleinigkeiten übergeht. Das Werk ist nicht geschrieben, um denen Geschichte zu lehren, die sie nie studiert haben, sondern nur, um die Haupttatsachen denen ins Gedächtnis zu rufen, die sie schon kennen. Er befolgt das oberste Gesetz des Geschichtsschreibers, die Wahrheit zu sagen. Die eingestreuten Betrachtungen sind kein Beiwerk, sondern stehen in engstem Zusammenhang mit dem Stoffe.

Es bleibt uns noch eine Fülle andrer Abhandlungen Voltaires übrig, auf die ein näheres Eingehen fast unmöglich ist. Die einen sind kritischer Natur; in andren klärt er metaphysische Fragen, wieder andre drehen sich um Astronomie, Geschichte, Physik, Redekunst, Poetik und Mathematik. Selbst seine Romane haben einen originellen Zug. „Zadig“, „Micromegas“, „Candide“ sind Schriften, die unter scheinbarer Oberflächlichkeit moralische Allegorien oder Kritiken moderner philosophischer Systeme bergen, wo das Nützliche Hand in Hand mit dem Angenehmen geht.

Diese Fülle von Talenten und verschiedenen Kenntnissen, in einer Person vereint, versetzen den Leser in ein Gemisch von Überraschung und Erstaunen. Gehen Sie das leben aller großen Männer des Altertums durch, deren Name auf uns gekommen ist. Sie werden finden, meine Herren, daß jeder sich auf ein einziges Talent beschränkte. Aristoteles und Plato waren Philosophen, Äschines und Demosthenes Redner, Homer ein Epiker, Sophokles ein Dramatiker. Anakreon pflegte die gefällige Muse; Thukydides und Xenophon waren Geschichtsschreiber. Ebenso waren bei den Römern Virgil, Horaz, Ovid und Lukrez nur Dichter, Livius und Varro241-2 Geschichtsschreiber, Crassus, der ältere Antonius und Hortensius Redner. Nur Cicero, Konsul und Redner, Verteidiger und Vater des Vaterlandes, hat verschiedene Talente und Kenntnisse in sich vereint. Mit der Macht des Wortes, die ihn über alle seine Zeitgenossen erhob, verband er tiefes Studium der Philosophie, wie man sie zu seiner Zeit kannte. Das zeigt sich in seinen Tuskulanen, in seiner wundervollen Abhandlung „Über die Natur der Götter“, in seiner Schrift „Von den Pflichten“, die vielleicht das beste Moralbuch ist, das wir besitzen. Cicero war sogar Dichter. Er übersetzte die Verse des Aratos241-3 ins Lateinische, und wie man glaubt, hat er durch seine Verbesserungen das Gedicht des Lukrez241-4 vervollkommnet.

Wir mußten also den Zeitraum von siebzehn Jahrhunderten durchlaufen, um unter der Fülle der Sterblichen, die das Menschengeschlecht bilden, einen einzigen, Cicero, zu finden, dessen Kenntnisse sich mit denen unsres berühmten Schriftstellers<242> vergleichen lassen. Man kann sagen, wenn der Ausdruck erlaubt ist, daß Voltaire allein eine ganze Akademie aufwog. Er hat manches geschrieben, worin man Bayle mit dem ganzen Rüstzeug seiner Logik zu erkennen glaubt, andres, wo man Thukydides zu lesen vermeint. Bald entdeckt er als Physiker die Naturgeheimnisse, bald folgt er als Metaphysiker, auf Analogie und Erfahrung gestützt, mit gemessenen Schritten der Fährte Lockes. In andren Werken finden Sie ihn als Nebenbuhler des SophoNes; dort weiß er ein trockenes Thema reizvoll zu gestalten; hier pflegt er die heitere Muse. Aber offenbar strebt er in seinem hohen Geistesflug nicht allein danach, sich mit Terenz oder Moliere zu messen. Bald sehen Sie ihn den Pegasus besteigen, der seine Flügel entfaltet und ihn auf die Höhen des Helikon trägt, wo der Gott der Musen ihm seinen Platz zwischen Homer und Virgil anweist.

Solche mannigfaltigen Schöpfungen und solche gewaltigen Anstrengungen des Genius wirkten schließlich mächtig auf die Geister, und ganz Europa zollte Voltaires hervorragenden Talenten Beifall. Man darf nicht glauben, daß Eifersucht und Neid ihm erspart blieben: sie spitzten alle ihre Pfeile, um ihn zu Fall zu bringen. Der den Menschen eingeborene Unabhängigkeitstrieb, der ihnen Abneigung selbst gegen die rechtmäßigste Autorität einstößt, machte sie um so erbitterter gegen eine Überlegenheit an Talenten, die sie in ihrer Unzulänglichkeit nicht erreichen konnten. Doch der Beifall übertönte das Geschrei der Neider. Die Gelehrten fühlten sich durch die Bekanntschaft mit diesem großen Manne geehrt. Wer irgend Philosoph genug war, um das persönliche Verdienst anzuerkennen, stellte Voltaire weit über die, deren Vorfahren, Titel, Stolz und Reichtum ihr einziges Verdienst bilden. Voltaire gehörte zu der kleinen Zahl der Philosophen, die da sagen können: Omnia mea mecum porto242-1. Prinzen, Fürsten, Könige, Kaiserinnen überhäuften ihn mit Zeichen ihrer Hochachtung und Bewunderung. Damit wollen wir zwar nicht behaupten, daß die Großen der Erde die besten Beurteiler des Verdienstes seien, aber es beweist doch so viel, daß der Ruf unsres Autors allgemein so fest begründet war, daß die Häupter der Völker der öffentlichen Meinung nicht widersprachen, sondern im Gegenteil glaubten, sich ihr anschließen zu müssen.

Wie aber in der Welt das Gute stets mit dem Schlechten gepaart ist, so geschah es, daß Voltaire, so empfänglich für den Beifall der Welt, dessen er sich erfreute, nicht minder empfindlich war gegen die Stiche jener Insekten, die sich vom Schlamme des Musenquells nähren. Weit entfernt, sie zu züchtigen, verewigte er sie, indem er ihre obskuren Namen in seine Werke setzte. Von ihnen wurde er jedoch nur leicht verunglimpft im Vergleich zu den weit heftigeren Verfolgungen, die er von den Geistlichen zu erdulden hatte. Sie, die schon von Berufs wegen als Diener des Friedens nur Werke der Barmherzigkeit und Wohltaten hätten vollbringen sollen, fielen, durch falschen Eifer verblendet und durch Fanatismus verdummt, über ihn<243> her und wollten ihn durch Verleumdungen zu Falle bringen. Ihre Unwissenheit machte ihr Vorhaben zuschanden. Aus Mangel an Einsicht verwirrten sie die klarsten Begriffe, legten die Stellen, wo unser Autor Duldung predigt, als Lehrsätze des Atheismus aus, und derselbe Voltaire, der alle Hilfsquellen seines Genius zum kraftvollen Nachweis vom Dasein Gottes anwandte, wurde zu seinem großen Erstaunen gescholten, dessen Dasein geleugnet zu haben.

Aber wenn jene frommen Seelen ihrem Haß gegen ihn so ungeschickt Luft machten, so ernteten sie damit nur den Beifall von Leuten ihres Schlages, nicht aber von denen, die den leisesten Begriff von Logik hatten. Sein eigentliches Verbrechen bestand darin, daß er in seiner Geschichte nicht feige die Lasier so vieler Päpste verhehlte, die die Kirche entehrt haben, daß er mit Fra Paolo243-1, mit Fleury243-2 und so vielen andren aussprach, wieviel öfter die Leidenschaften das Benehmen der Priester bestimmten als die Eingebung des Heiligen Geistes, daß er in seinen Werken Abscheu gegen jene entsetzlichen Metzeleien erregte, die aus falschem Eifer begangen wurden243-3, und daß er schließlich jene unverständlichen und nichtigen Streitereien, denen die Theologen aller Sekten soviel Bedeutung beilegen, mit Verachtung behandelte. Fügen wir zur Vollendung des Bildes noch hinzu, daß alle Werke Voltaires frisch von der Presse verkauft wurden, während die Bischöfe mit heiligem Grimm sahen, wie ihre Hirtenbriefe von Würmern zerfressen wurden oder in den Buchhändlerläden vermoderten. So urteilen dumme Priester! Man würde ihnen ihre Dummheit verzeihen, wenn ihre falsche Logik die Ruhe des Bürgers nicht störte. Gibt man der Wahrheit die Ehre, so genügt der Mangel an Denkvermögen zur Kennzeichnung dieser elenden und verächtlichen Wesen, die ihren Beruf darin sehen, die Vernunft in Fesseln zu schlagen und mit dem gesunden Menschenverstand offen zu brechen.

Da es hier Voltaire zu rechtfertigen gilt, dürfen wir keine der Beschuldigungen übergehen, die man ihm zur Last legte. Die Scheinheiligen bezichtigten ihn also noch, er habe die Anschauungen Epikurs, Hobbes', Woolstons243-4, Lord Bolingbrokes und andrer Philosophen verkündet. Aber ist es nicht klar, daß er, anstatt ihre Lehren durch das zu bestärken, was auch jeder andre hätte hinzufügen können, sich mit der Rolle des Berichterstatters begnügt und die Entscheidung des Prozesses seinen Lesern anheimgibt? Und zweitens, wenn die Religion auf Wahrheit beruht, was hat sie dann von allem zu fürchten, was die Lüge gegen sie erfinden kann? Davon war Voltaire fest überzeugt. Er hielt es nicht für möglich, daß die Zweifel eines Philosophen über die göttlichen Offenbarungen den Sieg davontragen könnten.

Aber gehen wir weiter. Vergleichen wir die in seinen Werken vertretene Moral mit der seiner Verfolger. Er sagt, die Menschen sollen sich wie Brüder lieben; sie haben die Pflicht, einander die Last des Lebens tragen zu helfen, wo die Summe<244> der Leiden die der Freuden überwiegt; ihre Meinungen sind so verschieden wie ihre Gesichter. Statt sich zu verfolgen, weil nicht alle das gleiche denken, sollen sie sich darauf beschränken, das Urteil der im Irrtum Befangenen durch Gründe zu berichtigen, nicht aber Feuer und Schwert zu Hilfe zu nehmen. Kurz, sie sollen sich gegen ihre Nächsten so betragen, wie sie wünschen, daß man sie behandle. Ist es nun Voltaire, der so spricht, oder der Apostel Johannes, oder ist es die Sprache des Evangeliums? Stellen wir nun die praktische Moral der Heuchler oder der falschen Eiferer daneben. Sie drückt sich wie folgt aus: „Rotten wir die aus, die anders denken, als wir wünschen. Schlagen wir die zu Boden, die unsren Ehrgeiz und unsre Lasier enthüllen. Gott sei der Schild unsrer Ungerechtigkeit. Mögen die Menschen sich zerfleischen, mag Blut stießen, was liegt daran, wenn nur unser Ansehen wächst? Machen wir Gott unversöhnlich und grausam, damit die Zolleinnahmen für das Fegefeuer und das Paradies unsre Einkünfte vergrößern.“ Derart dient die Religion oft nur den Leidenschaften der Menschen zum Vorwand, und durch ihre Verderbtheit wird die reinste Quelle des Guten zur Quelle des Bösen.

Da die Sache Voltaires eine so gute war, wie wir eben zeigten, so erhielt er den Beifall aller Tribunale, an denen die Vernunft mehr Gehör fand als mystische Sophismen. So sehr er auch vom Priesterhaß verfolgt ward, er unterschied stets zwischen der Religion und denen, die sie entehren. Stets ward er den Geistlichen gerecht, die durch ihre Tugenden der Kirche wahrhaft zur Zierde gereichten, und tadelte nur die, die sich durch ihre Sittenverderbnis zum Abscheu der Welt machten.

So verbrachte Voltaire sein Leben zwischen den Verfolgungen seiner Neider und der Begeisterung seiner Bewunderer, ohne daß der Spott der einen ihn demütigte und ohne daß der Beifall der andren ihm eine höhere Meinung von sich selbst beibrachte. Er begnügte sich damit, die Welt aufzuklären und durch seine Werke die Liebe zu den Wissenschaften und zur Menschheit zu verbreiten. Nicht zufrieden damit, Moralvorschriften zu geben, predigte er das Wohltun durch sein eignes Beispiel. Sein mutiger Beistand kam der unglücklichen Familie des Calas zu Hilfe244-1. Er trat für Sirven ein und entriß ihn den barbarischen Händen seiner Richter244-2. Er hätte den Chevalier de La Barre von den Toten erweckt, hätte er die Gabe, Wunder zu tun, besessen244-3. Wie schön ist es, wenn ein Philosoph aus seiner Zurückgezogenheit die Stimme erhebt, wenn die Menschlichkeit, deren Anwalt er ist, die Richter zwingt, ungerechte Urteile umzustoßen! Hätte Voltaire nur diesen ein<245>zigen Zug für sich, er verdiente unter die kleine Zahl der wahren Wohltäter der Menschheit versetzt zu werden. Philosophie und Religion lehren also übereinstimmend den Weg der Tugend. Urteilen Sie selbst, wer christlicher ist, die Behörde, die eine Familie grausam aus dem Vaterlande stößt, oder der Philosoph, der sie aufnimmt und unterstützt? Der Richter, der mit dem Schwert der Gerechtigkeit einen Unbesonnenen mordet, oder der Weise, der das Leben des Jünglings retten will, um ihn zu bessern, der Henker des Calas oder der Beschützer seiner verzweifelten Familie? Solche Züge werden das Andenken Voltaires für ewig allen denen teuer machen, die mit gefühlvollem Herzen geboren sind und am Los ihrer Mitmenschen Anteil nehmen. Wie köstlich die Gaben des Geistes und der Einbildungskraft auch seien, wie hoch der Genius stiegen, wie umfassend die Kenntnisse sein mögen — diese Geschenke, die die Natur nur selten in Fülle austeilt, erheben uns doch nie über Taten der Menschenliebe und Wohltätigkeit. Jene werden bewundert, diese aber werden verehrt und gesegnet.

Wie schwer es mir auch wird, meine Herren, mich für immer von Voltaire zu trennen, ich fühle doch den Augenblick nahen, wo ich den Schmerz erneuern muß, den sein Verlust Ihnen verursacht. Wir haben ihn ruhig in Ferney gelassen. Geldgeschäfte riefen ihn nach Paris, wo er noch zeitig genug einzutreffen hoffte, um den Rest seines Vermögens aus einem Bankrott zu retten, in den er verwickelt war. Er wollte nicht mit leeren Händen in sein Vaterland zurückkehren. Indem er seine Zeit abwechselnd in den Dienst der Philosophie und der schönen Wissenschaften stellte, brachte er eine Fülle von Werken hervor und hatte stets einige in Vorrat. Da er eine neue Tragödie „Irene“ verfaßt hatte, wollte er sie in Paris aufführen lassen. Er pflegte seine Stücke der strengsten Kritik zu unterwerfen, bevor er sie an die Öffentlichkeit brachte. Diesem Grundsatz getreu, beriet er sich in Paris mit allen ihm bekannten Leuten von Geschmack und opferte eitle Eigenliebe dem Wunsche, seine Werke des Nachruhms würdig zu machen. Gelehrig folgte er den klugen Ratschlägen, die man ihm erteilte, und mit einzig dastehendem Feuereifer ging er an die Verbesserung seiner Tragödie. Ganze Nächte verbrachte er mit ihrer Umarbeitung. Sei es nun, um den Schlaf zu verscheuchen oder seine Sinne zu beleben, er genoß unmäßig viel Kaffee: fünfzig Tassen täglich reichten kaum hin245-1. Dies Getränt setzte sein Blut in heftige Wallung und erhitzte es derart, daß er zur Beschwichtigung des Fiebers Opium nahm, und zwar in so starten Dosen, daß es, statt sein Übel zu lindern, sein Ende beschleunigte. Bald nach diesem mit so wenig Vorsicht angewandten Mittel stellte sich eine Art Lähmung ein, dann ein Schlagfiuß, der seinem Leben ein Ende machte.

Obgleich Voltaire von zarter Konstitution und seine Natur durch Kummer, Sorgen und anstrengende Arbeit geschwächt war, erreichte er doch ein Alter von<246> vierundachtzig Jahren. Bei ihm beherrschte der Geist stets den Leib. Seine starte Seele teilte ihre Kraft einem Körper mit, der fast wie ein Hauch war. Sein Gedächtnis war erstaunlich. Bis zum letzten Atemzuge blieb sein Geist völlig klar und seine Vorstellungskraft rege. Mit welcher Freude, meine Herren, erinnere ich Sie an die Beweise von Bewunderung und Dankbarkeit, die die Pariser diesem großen Manne während seines letzten Aufenthaltes im Vaterlande darbrachten246-1! Es ist schön, aber selten, daß die Welt gerecht ist und jenen Ausnahmemenschen, die die Natur nur hin und wieder hervorbringt, schon bei Lebenszeit Gerechtigkeit widerfahren läßt, daß sie bei ihren Zeitgenossen selbst den Beifall finden, den sie von der Nachwelt mit Sicherheit ernten. Man durfte billig erwarten, daß auf Voltaire, der den ganzen Scharfsinn seines Genius dem Ruhme seines Volkes gewidmet hat, einige Strahlen zurückfallen würden. Das haben die Franzosen gefühlt und sich durch ihre Begeisterung des Glanzes würdig gemacht, den ihr großer Lands, mann über sie und über das Jahrhundert ausgegossen hat. Würde man indes glauben, daß einem Voltaire, dem das heidnische Hellas Altäre und das alte Rom Statuen errichtet hätte, dem eine große Kaiserin, die Beschützerin der Wissenschaften, in Petersburg ein Denkmal setzen wollte246-2, daß einem solchen Manne, sage ich, in seinem Vaterlande das bißchen Erde fast verweigert wurde, das seine Asche bedeckte? Wie? Im achtzehnten Jahrhundert, wo die Aufklärung verbreiteter ist denn je, wo der philosophische Geist so große Fortschritte gemacht hat, sollte es Priester geben, barbarischer als die Heruler, würdiger, unter den Völkern von Taprobane246-3 zu leben, als im Schoße der französischen Nation, Elende, die, durch falschen Eifer verblendet und von Fanatismus trunken, verhindern, daß die letzten Pflichten der Menschlichkeit einem der berühmtesten Männer erwiesen werden, die Frankreich hervorgebracht hat? Und doch hat Europa das mit Schmerz und Entrüstung gesehen246-4! Aber wie groß auch der Haß dieser Rasenden und ihre feige Rachsucht sei, die sie noch gegen Leichname wüten läßt — weder das Geschrei des Neides noch ihr wildes Geheul werden Voltaires Andenken bestecken. Das gelindeste Schicksal, das<247> sie erwarten dürfen, ist, daß sie und ihre schnöden Ränke für ewlg ins Dunkel der Vergessenheit sinken, während Voltaires Ruhm von Zeitalter zu Zeitalter wachsen und sein Name unsterblich sein wird.

<248>

233-1 Voltaire war am 30. Mai 1778 gestorben.

234-1 Voltaires Vater, François Arouet († 1722), war Notar und später Sportelzahlmeister an der Pariser Rechnungskammer. Über den Ursprung des Pseudonyms Voltaire ist Sicheres nicht bekannt. Es erscheint zuerst 1719 in der Widmung des „Ödipus“ an die Herzogin von Orleans.

234-2 Der „Ödipus“, 1712 begonnen, wurde am 18. November 1718 in Paris aufgeführt.

234-3 Die „Odes philippiques“ von La Grange (vgl. Bd.VII, S. 32).

234-4 Hier liegt eine Verwechslung vor mit Voltaires erster Gefangenschaft in der Basiille (1717/1718), die aber ihren guten Grund in einem höchst anstößigen lateinischen Spottgedicht („Puero !egante“) auf den Regenten hatte.

235-1 Voltaire ging erst im Mai 1726 nach England, und zwar nach feiner zweiten Gefangenschaft in der Bastille. Sie war die Folge einer Forderung, die er dem Chevalier de Rohan wegen einer ihm öffentlich zugefügten Beschimpfung hatte zugehen lassen.

235-2 „La Ligue ou Henri le Grand“ erschien bereits 1723.

235-3 „Élements de la philosophie de Newton“, 1738.

235-4 Bekannter als „Lettres philosophiques“, 1733.

235-5 „Brutus“ wurde 1730 aufgeführt; „Mariamne“ war schon 1724 gespielt worden.

236-1 Vgl. S. 40 f. 90. 96.

236-2 „Les principes de Newton.“

236-3 Die erste Fassung des „Essai sur les mœurs et l'esprit des nations“. Das Werk erschien ohne Wissen und Wollen Voltaires 1753 in Berlin und Holland unter dem Titel „Abrégé de l'histoire universelle“. Erst 1769 gab Voltaire es in der endgültigen Gestalt unter dem Titel „Essai“ usw. heraus.

236-4 „Le Siècle de Louis XIV“, Berlin 1751, 2 Bände.

236-5 „Histoire de Charles XII“, 1731.

236-6 In Luneville residierte König Stanislaus Leszczynski, Ludwigs XV. Schwiegervater, nach seinem Verzicht auf die polnische Krone (1735).

237-1 Nach der ersten Begegnung mit dem König auf Schloß Moyland bei Kleve (11. September 1740) hatte Voltaire Ende 1742 und dann nochmals 1743 am preußischen Hofe geweilt. Vgl. Bd II, S. 149.

237-2 Am 10. Juli 1750 traf Voltaire in Potsdam ein.

237-3 Vgl. S. 227 ff.

237-4 Voltaire verließ Potsdam am 25. März 1753.

237-5 Die Übersiedlung nach Les Délices fand schon im Frühjahr 1755 statt.

237-6 „Der Genfer Bürgerkrieg. Ein Heldengedicht.“ 1767.

238-1 Vgl. S. 3 ff. und Bd. I I, S. 45.

240-1 Vgl. Bd. VII, S. 33.

240-2 Vgl. S. 182.

241-1 Vgl. S. 236.

241-2 Vgl. S. 60.

241-3 Das astronomische Lehrgedicht: Phaenomena.

241-4 Das Lehrgedicht: De rerum natura

242-1 All meinen Besitz trage ich bei mir.

243-1 Vgl. S. 162.

243-2 Vgl. S. 103 ff.

243-3 Vgl. S. 195.

243-4 Vgl. S. 163.

244-1 Jean Galas, ein protestantischer Kaufmann in Toulouse, wurde 1762 gerädert, weil die Geistlichkeit ihn beschuldigte, seinen Sohn, der Selbstmord begangen hatte, ermordet zu haben. Dank Voltaires unermüdlichen Bemühungen wurde er 1765 rehabilitiert und seine Familie entschädigt.

244-2 Sirven, ein Protestant aus Castres, wurde angeklagt, seine Tochter ertränkt zu haben, weil sie katholisch geworden war, und 1764 verurteilt. Unter persönlicher Gefahr setzte Voltaire 1771 die Freisprechung Sirvens und seiner Familie durch.

244-3 Der junge Chevalier de La Barre und zwei Freunde waren 1765 beschuldigt worden, ein Kruzifix verstümmelt zu haben. Er wurde 1766 hingerichtet. Voltaire versuchte umsonst, seinen Mitverurteilten d'Etallonde zu rehabilitieren.

245-1 D'Alembert, aus dessen Berichten der König die Darstellung von Voltaires Tobe schöpft, spricht nur von „viel Kaffee“.

246-1 Am 30. März 1778 wohnte Voltaire nach einem glanzvollen Empfang in der Akademie der Aufführung seiner „Irene“ bei, die sich für ihn zu einer beispiellosen Ovation gestaltete. Nach der Vorstellung wurde seine Büste auf der Bühne mit Lorbeer gekrönt und ihm selbst ein Lorbeerkranz aufs Haupt gedrückt.

246-2 Wie d'Alembert am 16. August 1778 dem König schrieb, hatte Katharina II. Voltaires Bibliothel angekauft und beabsichtigte, sie in einem kleinen Tempel aufzustellen und in dessen Mitte ihm ein Denkmal zu erlichten.

246-3 Taprobane, altgriechischer Name für Ceylon, nach dem Sanskritnamen Tamrapanni.

246-4 Da die Pariser Geistlichkeit verbot, daß Voltaire in der Hauptstadt begraben wurde, mußte er in der Abteikirche von Scellières in der Champagne beigesetzt werden, deren Abt, Abbe Mignot, sein Neffe war. Der Einspruch des Bischofs von Troyes gegen seine dortige Bestattung kam zu spät. 1791 wurde die Leiche auf Beschluß der Nationalversammlung nach Paris übergeführt und mit großem Pomp im Pantheon beigesetzt.