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Vorrede zu Voltaires Henriade (1739)3-1

Ganz Europa kennt das Heldengedicht „Die Henriade“. Durch zahlreiche Ausgaben ist es bei allen Völkern verbreitet, die Bücher haben und Kultur genug besitzen, um etwas Geschmack an der Literatur zu finden.

Voltaire ist unter allen Schriftstellern vielleicht der einzige, der die Vollendung seiner Kunst dem Eigennutz und der Eigenliebe vorgezogen und seine Fehler unermüdlich verbessert hat. Von der ersten Auflage, in der die „Henriade“ als „Poème de la Ligue“3-2 erschien, bis auf die heutige Ausgabe hat der Verfasser sich in unermüdlichem Fleiße bis zu der Vollendung emporgeschwungen, die den großen Genies und den Meistern der Kunst gewöhnlich mehr vorschwebt als erreichbar ist.

Die heutige Ausgabe ist bedeutend erweitert — ein deutliches Zeichen für die Fruchtbarkeit des Verfassers. Sein Genie gleicht einer unerschöpflichen Quelle, und nie wird in seiner Hoffnung betrogen, wer sich neue Schönheiten und Vollkommenheiten aus der vorzüglichen Feder Voltaires verspricht.

Zahllose Schwierigkeiten hatte dieser Fürst der französischen Dichtkunst bei der Abfassung seines Epos zu überwinden. Zunächst hatte er die vorgefaßte Meinung ganz Europas und seiner eignen Landsleute gegen sich. Die Franzosen glaubten, ein Heldengedicht könnte in ihrer Sprache nie gelingen. Er hatte das traurige Beispiel seiner Vorläufer vor Augen, die auf diesem schwierigen Wege sämtlich gestrauchelt waren. Er hatte ferner den abergläubischen Respekt der gelehrten Welt vor Virgil und Homer zu überwinden. Vor allem aber besaß er eine schwache Gesundheit, eine zarte Konstitution, die jedem anderen, für den Ruhm seines Volkes minder Begeisterten die Arbeitskraft geraubt hätte. Trotz all dieser Hindernisse hat Voltaire sein Vorhaben durchgeführt, obwohl unter Verzicht auf eine glänzende Laufbahn und oft auch auf Kosten seiner Ruhe.

Ein so umfassendes Genie, ein so scharfer Geist, ein so emsiger Arbeiter, wie Voltaire, hätte sich gewiß den Weg zu den höchsten Ämtern erschlossen, hätte er nur den Kreis der von ihm gepflegten Wissenschaften verlassen, um sich Geschäften zu widmen, die der Eigennutz und Ehrgeiz der Menschen „ernste Beschäftigungen“ zu<4> nennen beliebt. Jedoch er folgte lieber dem unwiderstehlichen Drang seines Genius als den Vorteilen, die er dem Schicksal gewiß abgerungen hätte. Seine Erfolge haben seine Erwartungen vollauf gerechtfertigt. Er ehrt die Wissenschaften ebenso, wie sie ihn ehren. In der „Henriade“ tritt er zwar nur als Dichter hervor. Aber er ist auch ein tiefer Philosoph, ein gelehrter Historiker.

Die Künste und Wissenschaften sind ungeheure Länder. Sie alle zu erobern, wie Cäsar oder Alexander die Welt erobert haben, ist uns schier unmöglich. Schon zur Unterwerfung eines kleinen Gebietes ist viel Talent, viel Streben nötig, und so gehen die meisten denn auch bei der Eroberung jener Länder den Gang der Schildkröte. Es gibt aber auch in den Wissenschaften Reiche, die unter eine Unzahl kleiner Herr, scher aufgeteilt sind, genau wie in der Welt. Diese großen Herrscherbünde haben sogenannte Akademien gebildet. Aber wie sich in Ländern mit aristokratischer Ver, fassung oft Leute mit überlegenem Geiste finden, die sich über die anderen hinaus, geschwungen haben, so haben auch die aufgeklärten Zeitalter Menschen hervorgebracht, die in sich das Wissen vereinigten, das vierzig denkenden Köpfen4-1 Beschäftigung genug gegeben hätte. So zu ihrer Zeit Leibniz und Fontenelle4-2, so heute Voltaire. Es gibt keine Wissenschaft, die nicht in sein Arbeitsgebiet fiele: von der höheren Mathematik bis zur Poesie hat er sie alle durch die Kraft seines Genius unterjocht.

Wer die Welt kennt und Voltaires Werke gelesen hat, wird leicht begreifen, daß der Neid ihn nicht verschonen tonnte. Große Begabung im Verein mit europäischem Rufe pflegt die Halbgelehrten, die Zwitter von Gelehrsamkeit und Unwissenheit, zu empören. Da die armen Schelme selbst talentlos sind, so schlagen sie dreist auf die los, denen sie sich überlegen wähnen, und verfolgen hartnäckig die strahlenden Geister, deren Licht sie verdunkelt. Und so haben denn alle finsteren Mächte, Bosheit und Verleumdung, Undank und Haß, sich gegen Voltaire verschworen. Keine Art von Verfolgung blieb ihm erspart. Machthaber, die ihn im Interesse ihres eignen Ruhmes hätten schützen sollen, haben ihn feig im Stich gelassen und ihn dem Haß seiner ver, brecherischen Feinde preisgegeben.

Trotz einiger zwanzig Wissenschaften, die Voltaires Schaffen zersplittern, trotz seines häufigen Krankseins und des Kummers, den ihm unwürdige Neider bereiten, hat er seine „Henriade“ zu einem Grad der Vollkommenheit gebracht, den meines Wissens wohl nie eine Dichtung erreicht hat. Die Führung der Handlung, die Stoffverteilung sind so weise durchdacht, wie nur möglich. Der Verfasser hat sich die Vorwürfe zunutze gemacht, die gegen Homer und Virgil erhoben worden sind. Die ein, zelnen Gesänge der Ilias haben wenig oder gar keinen Zusammenhang; man hat sie deshalb Rhapsodien genannt. In der „Henriade“ sind alle Gesänge aufs innigste miteinander verknüpft. Ein und dieselbe Handlung zerfällt durch den zeitlichen Ver, lauf in zehn Hauptereignisse. Der Schluß ist natürlich: Heinrichs IV. Übertritt4-3<5> und sein Einzug in Paris setzen den Bürgerkriegen der Ligue, die Frankreich zerrütteten, ein Ende. Darin ist der Franzose dem Lateiner weit überlegen, der seine Äneis nicht so fesselnd schließt, wie er sie begonnen hat. Am Ende verflackert das schöne Feuer, das den Leser im Anfang jener Dichtung entzückte. Man möchte sagen, Virgil habe die ersten Gesänge in der Blüte der Jugend verfaßt, aber die letzten im Alter, wo das Hinschwinden der Einbildungskraft und das allmähliche Verlöschen des geistigen Feuers den Kriegern das Heldentum und den Dichtern die Eingebung raubt.

Voltaire ahmt zwar hier und da Virgil und Homer nach, aber doch stets in selbständiger Weise. Man merkt dabei, daß das kritische Urteil des Franzosen dem lateinischen und griechischen Dichter unendlich überlegen ist. Man vergleiche das Hinabsteigen des Odysseus in die Unterwelt5-1 mit dem VII. Gesang der „Henriade“, und man wird sehen, daß den letzteren eine Fülle von Schönheiten ziert, die Voltaire ganz allein sich verdankt. Schon der Gedanke, Heinrich IV. im Traume all das sehen und hören zu lassen, was er im Himmel und in der Hölle erblickt und was ihm im Schicksalstempel geweissagt wird, wiegt die ganze Ilias auf. Denn der Traum Heinrichs IV. führt alles, was er erlebt, auf die Regeln der Wahrscheinlichkeit zurück, wogegen die Unterweltsszene der Odyssee all der Reize bar ist, die Homers genialer Fiktion den Schein der Wahrheit hätten geben können. Auch stehen alle Episoden in der „Henriade“ am rechten Fleck. Der Verfasser hat seine Kunst so geschickt verborgen, daß sie nicht zu sehen ist und als natürlich erscheint. Ja, man möchte sagen, all die Schönheiten, die seine fruchtbare Phantasie hervorgebracht hat und die das ganze Gedicht Seite für Seite zieren, fügen sich ganz notwendig ein. Nirgends findet man die kleinlichen Details, in die so viele Schriftsteller versinken, bei denen Trockenheit und Schwulst an Stelle des Genies treten. Die pathetischen Szenen weiß Voltaire packend zu gestalten. Er besitzt die große Kunst, die Herzen zu rühren. Solche ergreifenden Stellen sind Colignys Tod5-2, Valois' Ermordung5-3, der Kampf des jungen d'Ailly, Heinrichs IV. Abschied von der schönen Gabrielle d'Estrées und der Tod des tapfern Chevalier d'Aumale5-4. Jedesmal, wenn man das liest, ist man ergriffen. Mit einem Worte: der Verfasser verweilt nur bei den fesselndsten Stellen und geht leicht über alles hinweg, was sein Gedicht in die Länge ziehen würde. In der „Henriade“ ist nichts zu viel und nichts zu wenig.

Die Wunder, die der Verfasser benutzt, können keinen vernünftigen Leser stören. Alles kommt durch das Religionssysiem der Wahrscheinlichkeit nahe. Solche Macht besitzen Poesie und Beredsamkeit. Sie vermögen selbst Gegenstände ehrwürdig zu machen, die es an und für sich nicht sind, und sie so glaubhaft zu gestalten, daß sie den Leser verführen.

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Alle Allegorien in diesem Gedicht sind neu. Die Politik, die im Vatikan haust, der Tempel der Liebe, die wahre Religion, die Tugenden, die Zwietracht, die Laster — alles lebt, alles regt sich unter Voltaires Griffel. Lauter Bilder, die nach dem Urteil der Kenner den geschickten Pinsel Poussins und der Caracci6-1 übertreffen.

Es bleibt mir nur noch ein Wort über die Poesie des Stiles — das, worin sich der Dichter als solcher erweist. Nie war die französische Sprache so kraftvoll wie in der „Henriade“, überall herrscht Adel. Mit unendlichem Feuer erhebt sich der Dichter zum Erhabenen, und steigt er herab, so geschieht es mit Anmut und Würde. Welche Lebhaftigkeit in der Darstellung, welche Kraft in den Charakteren und Schilderungen, welche Vornehmheit in den Einzelheiten! Der Kampf des jungen Turenne6-2 wird zu allen Zeiten die Bewunderung der Leser herausfordern. Hier, in der Schilderung des Degenkampfes, bei den Stößen, Paraden, Gegenstößen und Treffern fand Voltaire das Haupthindernis in seiner Sprache. Trotzdem hat er die Schwierigkeit glänzend überwunden. Er versetzt den Leser auf das Schlachtfeld, und man glaubt mehr, einem Kampfe beizuwohnen, als dessen Beschreibung in Versen zu lesen.

Die gesunde Moral, die Schönheit der Gefühle findet in diesem Gedicht ihren wünschenswertesten Ausdruck. Heinrichs IV. besonnene Tapferkeit, sein Edelmut, seine Menschlichkeit sollten allen Königen und Helden zum Vorbild dienen. Wie oft verfahren sie hart und roh gegen die, die das Schicksal der Staaten oder das Kriegsglück in ihre Hand gegeben hat! Ihnen sei im Vorübergehen gesagt: wahre Größe liegt nicht in der Unbeugsamkeit und Tyrannei, sondern in den Gefühlen, die der Verfasser so edel kennzeichnet:

Freundschaft, du Himmelsgabe, großer Seelen Lust,
Freundschaft, nie heimisch in der Herrscher Brust —
Zum Unglück der erlauchten Undankbaren6-3.

Zu den Meisterstücken der „Henriade“ gehört der Charakter Philipps von Mornay6-4. Ein ganz neuer Charakter: ein philosophischer Krieger, ein menschlicher Soldat, ein Hofmann, wahr und ohne Schmeichelei. Ein solcher Ausbund seltener Tugend verdient unsern Beifall. Und so bildet er denn auch für den Dichter einen reichen Quell edler Gefühle. Wie gern sehe ich diesen Philipp von Mornay, den treuen, stoischen Freund, an der Seite seines jungen, tapfern Herrn, wie er überall den Tod abwehrt und ihn doch nie austeilt6-5. Welcher Abstand zwischen diesem weisen Philosophen und den heutigen Sitten! Ja, für das Wohl der Menschheit ist es tief zu beklagen, daß ein so schöner Charakter nur in der Phantasie existiert.

Übrigens atmet die ganze „Henriade“ nichts als Menschlichkeit. Unablässig hebt Voltaire diese Tugend hervor, die den Fürsten so nötig, ja ihre einzige Tugend ist.<7> Er zeigt uns einen siegreichen König, der den Besiegten vergibt. Er führt den Helden bis vor die Mauern von Paris, aber statt die rebellische Stadt zu plündern, gibt er den von furchtbarer Hungersnot heimgesuchten Einwohnern die nötigen Lebens, Mittel. Umgekehrt braucht der Dichter die grellsten Farben für die scheußliche Metzelei der Bartholomäusnacht und die unerhörte Grausamkeit Karls IX., der mit eigener Hand gegen seine kalvinistischen Untertanen wütete. Die düstre Politik Philipps II., die Ränke und Kunstgriffe Sirtus' V., die schlaffe Untätigkeit Valois' und die Sünden, die Heinrich IV. aus Liebe begeht, werden beim rechten Namen genannt. Der Dichter umrankt alle seine Schilderungen mit kurzen, treffsicheren Bemerkungen, die das Urteil der Jugend bilden und den rechten Begriff von Tugend und Lasier geben müssen. Immer wieder mahnt Voltaire die Völker zur Treue gegen Gesetz und Herrscher. Er verewigt den Namen des Präsidenten Harlay7-1, dessen unerschütterliche Treue gegen seinen Herrn solchen Lohn wohl verdiente. Ein gleiches gilt von den Räten Brisson, Larcher, Tardif, die von den Rebellen umgebracht wurden. Hier macht der Dichter folgende Bemerkung:

Unsterblichkeit sich euer Ruf erwirbt:
Mit Ruhm stirbt, wer für seinen König stirbt7-2.

Poliers Rede vor den Rebellen7-3 ist gleich schön durch die Richtigkeit der Empfindungen wie durch die Kraft der Beredsamkeit. Der Dichter läßt einen ernsten Beamten vor der Ratsversammlung der Ligue reden. Mutig tritt er den Plänen der Rebellen entgegen, die einen König aus ihrer Mitte wählen wollen. Er mahnt sie, sich ihrem rechtmäßigen Gebieter7-4 zu unterwerfen, dessen Herrschaft sie sich entziehen wollen, verurteilt alle Mannstugend der Aufständischen, all ihre kriegerische Tapferkeit, die sich gegen ihren König richtet und dadurch zum Verbrechen wird. Aber was ich auch über diese Rede sage, ich reiche doch nicht an sie heran. Man muß sie aufmerksam lesen. Ich will ja auch nur die Leser auf die Schönheiten hinweisen, die sie übersehen könnten.

Ich gehe zu dem Religionskrieg über, der den Gegenstand der „Henriade“ bildet. Der Dichter mußte natürlich die Mißbräuche geißeln, die durch Aberglauben und Fanatismus in der Religion eingerissen sind. Hat man doch stets bemerkt, daß Glaubenskriege — das ist ihr besonderes Verhängnis — stets blutiger und erbitterter waren als Kriege, die der Ehrgeiz der Fürsten oder die Widerspenstigkeit der Untertanen hervorrief. Da nun Fanatismus und Aberglaube stets die Triebfedern der abscheulichen Politik der Großen und der Geistlichen waren, so mußte ihnen unbedingt ein Damm entgegengesetzt werden. Mit der ganzen Glut seiner Einbildungskraft, der ganzen Macht der Poesie und Beredsamkeit hat der Dichter die Torheiten unsrer Vorfahren der Gegenwart vor Augen gestellt, um uns für immer davor zu<8> bewahren. Er möchte die Krieger und Feldlager von den Spitzfindigkeiten und Haarspaltereien der Schulweisheit säubern und diese dem Pedantenvolt der Scholastiker überlassen. Er möchte den Menschen für alle Zeiten das geweihte Schwert entwinden, das sie vom Altar reißen, um ihre Mitbrüder erbarmungslos abzuschlachten. Mit einem Worte: die Wohlfahrt und Ruhe der Gesellschaft ist das Hauptziel der Dichtung. Darum mahnt der Dichter so oft, die gefährliche Klippe des Fanatismus und des falschen Eifers zu meiden.

Indes scheint die Mode der Religionskriege zum Segen der Menschheit jetzt überwunden. Wir hätten damit einen Wahn weniger auf der Welt. Aber ich wage zu behaupten: das verdanken wir zum guten Teil dem philosophischen Geiste, der seit einigen Jahren in Europa die Vorherrschaft erlangt hat. Je mehr Aufklärung, desto weniger Aberglaube. Ganz anders war es im Zeitalter Heinrichs IV. Die alle Begriffe übersteigende mönchische Unwissenheit und die Barbarei der Menschen, die keine andre Beschäftigung kannten als Jagen und Einandertotschlagen, ebnete den handgreiflichsten Irrtümern den Boden. Katharina von Medici8-1 und die aufständischen Großen konnten also damals die Leichtgläubigkeit der Menge um so leichter mißbrauchen, als das Volk roh, blind und unwissend war.

Die gebildeten Zeitalter, in denen die Wissenschaften erblühten, haben uns keine Beispiele von Religionskriegen und Bürgerzwist zu bieten. In den schönen Zeiten des Römischen Reichs, gegen Ende der Regierungszeit des Augustus, war das ungeheure Reich, das fast zwei Drittel der bekannten Welt umfaßte, friedlich und ohne Aufruhr. Die Menschen überließen die Glaubensinteressen den Dienern der Religion und zogen den ruhigen Genuß und das Studium der ehrgeizigen Wut vor, sich für Worte, für den Eigennutz oder für verderbliche Ruhmsucht gegenseitig zu schlachten.

Das Zeitalter Ludwigs XIV., das ohne Schmeichelei dem augusteischen an die Seite gestellt werden darf, ist gleichfalls ein Beispiel für stille, glückliche innere Zustände. Aber leider wurde diese Ruhe am Ende seiner Regierungszeit getrübt durch den Einfluß, den der Pater Le Tellier auf den altersschwachen Geist des Königs gewann. Indes war das nur das Wert eines Einzelnen, und es wäre offenbar unrecht, das ganze Zeitalter dafür verantwortlich zu machen, das im übrigen so reich an großen Männern war.

Die Wissenschaften haben also stets zur Vermenschlichung der Menschen beigetragen. Sie machen sie milder, gerechter und weniger gewalttätig. Sie haben am Wohl der Gesellschaft und am Glück der Völker mindestens den gleichen Anteil wie die Gesetze. Die sanfte und liebenswürdige Gesinnung derer, die die Künste und Wissenschaften pflegen, teilt sich unmerklich dem großen Haufen mit. Sie dringt vom Hof in die Hauptstadt, von der Hauptstadt in die Provinzen. Dann gehen den Menschen die Augen auf, daß die Natur sie gewiß nicht dazu schuf, sich gegenseitig auszurotten, sondern daß wir uns in unsern gemeinsamen Nöten beistehen sollen, daß Unglück,<9> Krankheit und Tod uns schon unablässig verfolgen und daß es der Gipfel des Wahnsinns ist, die Ursachen unsres Elends und unsrer Vernichtung noch zu mehren. Trotz aller Standesunterschiede gelangt man zur Einsicht, daß wir von Natur alle gleich sind, daß wir in Frieden und Eintracht miteinander leben müssen, welchem Volke, welchem Glauben wir auch angehören mögen, daß Freundschaft und Mitgefühl allgemeine Pflichten sind. Kurz, die Vernunft verbessert alle Fehler unsres Temperaments.

Das ist der wahre Nutzen der Wissenschaften, und daraus ergibt sich die Dankespflicht gegen alle, die sie pflegen und sie bei uns einzubürgern suchen. Voltaire, der alle diese Wissenschaften übt, schien mir stets um so mehr den Dank der Welt zu verdienen, als er nur für das Wohl der Menschheit lebt und arbeitet.

Solche Gedankengänge und mein lebenslänglicher Wunsch, der Wahrheit Ehre zu erweisen, haben mich bestimmt, der Öffentlichkeit diese Ausgabe vorzulegen. Ich habe versucht, sie Voltaires und seiner Leser möglichst würdig zu gestalten. Mit einem Worte: mich deuchte, daß ich durch Ehrung dieses bewundernswerten Schriftstellers gleichsam unser Jahrhundert selbst ehre. Jedenfalls kann die Nachwelt dann von Zeitalter zu Zeitalter wiederholen: jene Zeit hat nicht nur große Männer hervorgebracht, sondern auch ihre ganze Trefflichkeit erkannt, und Neid und Kabale haben nichts gegen die vermocht, die durch Talente und Verdiensie aus dem großen Haufen hervorragten, ja selbst Große übertrafen.


3-1 Die obige Vorrede ist im August 1739 verfaßt. Sie war für eine Prachtausgabe der „Henriade“ bestimmt, die Friedrich zu veranstalten beabsichtigte und für die u. a. Knobelsdorff Vignetten zeichnen sollte. Vgl. auch die „Gedächtnisrede auf Voltaire“.

3-2 „La Ligue“, Paris 1723.

4-1 Die französische Akademie zählt vierzig Mitglieder.

4-2 Bernard le Bovier de Fontenelle (1657 bis 1757).

4-3 Zum Katholizismus (1593).

5-1 Odyssee, XI. Gesang.

5-2 In der Bartholomäusnacht am 23. August 1572 (II. Gesang, Vers 207).

5-3 König Heinrich III., der letzte des Hauses Valois, wurde am 1. August 1589 von dem fanatischen Mönche Jakob Clement ermordet (V. Gesang, Vers 279).

5-4 VIII. Gesang, Vers 207; IX, 339; X, 148.

6-1 Nicolas Poussin († 1665); Lodovico Caracci († 1619): Annibale Caracci († 1609).

6-2 Henri de la Tour d'Auvergne, Vicomte de Turenne, der Vater des berühmten Feldherrn (X. Gesang, Vers 107).

6-3 VIII. Gesang, Vers 322—324.

6-4 Philipp de Mornay Duplessis († 1623), Führer der Protestanten und Freund Heinrichs IV.

6-5 VIII. Gesang, Vers 180—204.

7-1 Achille de Harlay, Präsident des Pariser Parlaments (IV. Gesang, Vers 439).

7-2 IV. Gesang, Vers 467. 468.

7-3 Nicolas Polier de Blancmesnil, Präsident des Pariser Parlaments (VI. Gesang, Vers 83—134).

7-4 Heinrich IV.

8-1 Die Witwe König Heinrichs II. und Mutter der Könige Karl IX. und Heinrich III.