<55>betten kann, und sein Urteil ist zu schärfen, damit es seine eignen Leistungen abschätzen lernt. Der gewaltigste Geist gleicht ohne Kenntnisse einem rohen Diamanten, der erst unter den Händen eines geschickten Steinschleifers seinen Wert erhält. Wieviel Geist geht derart für die menschliche Gesellschaft verloren, und wie viele große Männer jedes Schlages werden im Keime erstickt, sei es durch Unwissenheit, sei es durch die elenden Verhältnisse, in die sie gesetzt sind!

Das wahre Wohl des Staates, sein Vorteil und Glanz erfordern also, daß die Volksgenossen so unterrichtet und aufgeklärt wie möglich sind. Dadurch erhält der Staat in jedem Berufe zahlreiche geschickte Untertanen, die zur tüchtigen Verwaltung der verschiedenen Ämter, die man ihnen anvertrauen muß, wohl imstande sind.

Der Zufall der Geburt hat viele in eine Lebenslage gebracht, in der sie nicht ermessen können, welch unendlichen Schaden mehr oder weniger alle europäischen Staaten durch die Mißgriffe von Unwissenden erleiden, und so werden ihnen diese Übelstände vielleicht nicht so fühlbar, als wenn sie deren Augenzeugen wären. Es ließe sich eine Menge solcher Beispiele anführen, wenn die Art und der Umfang dieser Rede uns nicht in die richtigen Schranken verwiese. Nur die Faulheit, die sich zu unterrichten verschmäht, nur die anspruchsvolle Unwissenheit, die alles mit Beschlag belegt und zu allem unfähig ist, konnte irgend einen Narren1 zu der durch elende Aberwitzigkeiten gestützten Behauptung verführen, die Wissenschaften wären verderblich, verfeinerten nur die Lasier und verderbten die Sitten. Solche Verkehrtheiten springen in die Augen! In welcher Form man sie auch vorbringe, fest sieht, daß die Bildung den Geist veredelt, anstatt ihn zu erniedrigen. Was verdirbt die Sitten? Böse Beispiele sind es. Wie Seuchen in großen Städten schlimmere Verheerungen anrichten als in Dörfern, so macht auch die Ansteckung des Lasters in volkreichen Städten größere Fortschritte als auf dem Lande, wo die tägliche Arbeit und ein abgeschlosseneres Leben die Sitten einfach und rein erhält.

Es hat falsche Staatsmänner gegeben, die in kleinlichen Begriffen befangen waren und ohne gründliches Eingehen auf den Gegenstand glaubten, es sei leichter, ein unwissendes und verdummtes Volk zu regieren als eine aufgeklärte Nation. Das ist wirklich eine überwältigende Behauptung! Die Erfahrung beweist vielmehr, daß ein Volk desto eigensinniger und starrköpfiger ist, je dümmer es ist, und daß es weit schwerer hält, seinen Starrsinn zu brechen, als ein leidlich gebildetes Volk von einer gerechten Sache zu überzeugen. Das wäre ein schönes Land, wo die Talente ewig unterdrückt blieben und nur ein Einziger weniger beschränkt wäre als die andren! Solch ein von Unwissenden bevölkerter Staat gliche dem verlorenen Paradiese der Bibel, das nur von Tieren bewohnt war.

Dem erlauchten Hörerkreis der Akademie braucht zwar nicht erst bewiesen zu werden, daß Künste und Wissenschaften ebenso nützlich, wie für die Völker, die sie besitzen,


1 Jean Jacques Rousseau.