<208> Sicherheit, als plötzlich die düstere Trauerkunde unser Hoffen vernichtete und uns in den Abgrund des Schmerzes stürzte.

Gedenken Sie, meine Herren, des Schicksalstages, da das schnell sich verbreitende Gerücht uns plötzlich die traurigen Worte verkündete: „Prinz Heinrich ist tot!“ Welche Bestürzung! Welch aufrichtige, wenn auch vergebliche Klagen! Wieviel Tränen! Nein, das war kein geheucheltes Beileid, sondern der aufrichtige Schmerz eines aufgeklärten Volkes, das die Größe seines Verlustes ermißt. Die Jugend klagte: „Weshalb mußte der sterben, auf den wir so viele Hoffnungen bauten!“ Die Greise sagten: „Er hätte leben und wir sterben sollen!“ Ein jeder glaubte in ihm einen Verwandten, einen Freund, ein Vorbild, einen Wohltäter verloren zu haben. Marcellus, in der Blüte seines Lenzes dahingerafft1, wurde weniger betrauert; der Verlust des Germanicus2 hat den Römern nicht so viele Tränen entlockt. Der Tod eines Jünglings ward zum Unglück für das ganze Land.

O unseliger Leichenzug! Dein Weg wurde mit Strömen von Tränen benetzt. Nur durch Seufzen und Schluchzen, durch das Klagegeschrei des Voltes und alle Zeichen der Verzweiflung konntest Du zum Grabe gelangen!

Das, meine Herren, ist das Vorrecht der Tugend, wenn sie in ihrer ganzen Reinheit erstrahlt: So sehr die Menschen auch zum Lasier neigen, sie müssen doch zu ihrem eignen Besten die Tugend lieben und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Der aufrichtige Beifall eines ganzen Volles, das allgemeine Zeugnis der öffentlichen Hochachtung, das Lob, das Prinz Heinrich nach seinem Tode gezollt ward, also zu einer Zeit, wo er jeder Schmeichelei entrückt war, — gehört das alles nicht zu jenen einmütigen Kundgebungen, worin die Stimme Gottes sich durch die Stimme eines ganzen Volkes zu offenbaren scheint? Messen wir also das Leben der Menschen nicht nach seiner längeren oder kürzeren Dauer, sondern nach dem Gebrauche, den sie von der Zeit ihres Daseins gemacht haben. O liebenswerter Prinz! Deine Weisheit ließ Dich diese Wahrheit einsehen. Dein Lebenslauf war kurz, aber Deine Tage waren inhaltsreich. Du selbst würdest die kurze Frist, die das Schicksal Dir beschieden hatte, nicht beklagen, wenn Du wüßtest, wie heiß Du geliebt wardst, wie viele Herzen Dir treu zuschlugen, wie großes Vertrauen die Welt auf Dein Talent setzte. Was konnte ein längeres Leben Dir wohl mehr bieten?

Ach! meine Herren, diese traurigen Betrachtungen vermögen unsren Gram nicht zu lindern. Im Gegenteil, sie mehren ihn nur! Sie gemahnen uns an alle Vorzüge, die wir genießen sollten, und die nun so plötzlich entschwunden sind. Eine Schicksalsstunde hat auf ewig unsre Hoffnung vernichtet, so viele Tugenden zum Wohle des Vaterlandes leuchten zu sehen. O unseliger Tag, der uns eine so süße Hoffnung raubte! Grausame Krankheit, die ein so schönes Leben abkürzte! Erbarmungsloses Geschick, das den Liebling des Volkes raubte — warum lassest Du uns noch das


1 Marcus Claudius Marcellus, der Neffe und Schwiegersohn des Kaisers Augustus, starb 23 v. Chr. im Alter von 20 Jahren.

2 Germanicus starb 19 n. Chr., 33 Jahre alt.