<155> von Verbrechen, die seine Vorsehung im Taumel ihres Übermaßes an Schlechtigkeit und Verderbtheit leugnen. Ich verkündige Euch einen Gott des unendlichen Mitleids, der sich seiner Kreatur erbarmt, der die Schwachheit der Menschen kennt und ihnen ihre geringen Tugenden anrechnet, der mit unvergänglichen Gütern und ewiger Glückseligkeit unsre geringste Reue lohnt, unsre Seufzer, die zu ihm aufsteigen, unsre Unterwerfung unter die Ratschlüsse seiner Vorsehung, über die wir so oft weinen und wehklagen, solange wir in diesem Jammertal wohnen. Ich verkündige Euch einen Gott, der uns belohnt für die Barmherzigkeit, die wir unsren Mitbrüdern auf Erden erwiesen haben, für den Glauben an seine Verheißungen, die niemals trügen, für die Kraft, mit der wir den Fallstricken und Versuchungen des Bösen widerstehen. Ich verkündige Euch schließlich einen Gott, der mit dem für uns Sünder vergossenen Blute seines heiligen eingeborenen Sohnes all die Flecken und Mängel rein wäscht, die unsre Seelen vom Sündenfall der ersten Menschen ererbt haben, auf daß wir in die ewige Seligkeit eingehen zu den Heiligen, die da sitzen zur Rechten des Vaters in seiner himmlischen Herrlichkeit.

Noch nie habt Ihr etwas Wichtigeres von dieser Kanzel herab vernommen. Es kommt ein Tag, da die Taten der Menschen offenbar werden, ein Tag, da all ihr Tun und Lassen gerichtet wird, ein Tag, da irdische Macht und Größe nichts mehr gilt, da der Mensch all seines prunkenden Scheines entkleidet wird, da nicht das Ansehen seiner Freunde, nicht der Beistand seiner Macht, nicht die Achtung vor seinem großen Vermögen, nicht der trügerische Zauber seiner Beredsamkeit, — da ihn nichts vor der allmächtigen Hand seines Schöpfers und Richters rettet. Dann werden Lohn und Strafe nicht nach wunderlicher Laune und blinder Gunst, sondern einzig und allein nach den guten und schlechten Taten ausgeteilt werden. Dann wird die hienieden unglückliche oder verfolgte Tugend ihren Lohn finden und das triumphierende Lasier, das die Unschuld in seinem eitlen Wohlergehen geschmäht hat, die gerechte Strafe für seine Verbrechen erleiden.

Bewundert, o Christen, die unendliche Weisheit Eures Schöpfers! Unser Leben, die kurze, beschränkte Laufbahn, durch die uns die Zeit im Fluge dahinträgt, unser Leben, sage ich, ist nur eine Zeit der Prüfung, nur die Vorbereitung auf die Ewigkeit. Es ist kurz, damit unsre Standhaftigkeit in der Übung der Tugend nicht erschlaffe. Es ist kurz, damit wir den Bösen ihr Glück nicht neiden. Es ist kurz, damit unser Hoffen desto eher erfüllt werde, damit, wie der Apostel Paulus sagt1, unser Verlangen, von dem sterblichen Leibe erlöst zu werden und zu unsrem Gott und Heiland einzugehen, rascher befriedigt werde. Aber wie lang ist das Leben für die, so die Zeit der Gnade mißbrauchen und die Stimme nicht hören, die zum Volk Israel sprach: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich dich gerufen! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihrem Flügel versammelt; und“


1 Epistel an die Römer VII, Vers 24.