<110> schon seit so vielen Jahrhunderten im Besitz des Rechtes waren, die Völker zu beitrügen, konnten nicht vorhersehen, daß sie Gefahr liefen, wenn sie den Weg ihrer Vorgänger weiterschritten.

Ein sächsischer Mönch von verwegenem Mute, voll lebhafter Einbildungskraft, klug genug, um die Gärung der Geister zu benutzen, ward zum Haupt der Partei, die sich gegen Rom erklärte. Dieser neue Bellerophon warf die Chimäre zu Boden, und die Verzauberung schwand. Sieht man bloß auf die plumpen Grobheiten seines Stils, so erscheint Martin Luther zwar nur als ein polternder Mönch, als ein roher Schriftsteller eines noch wenig aufgeklärten Volkes. Wirft man ihm aber auch mit Recht sein ewiges Schelten und Schimpfen vor, so muß man doch bedenken, daß die, für die er schrieb, nur bei Flüchen warm wurden, aber Gründe nicht verstanden.

Betrachten wir jedoch das Werk der Reformatoren im großen, so müssen wir zugeben, daß der menschliche Geist ihrem Wirken einen guten Teil seiner Fortschritte dankt. Sie befreiten uns von vielen Irrtümern, die den Verstand unsrer Väter verdunkelten. Indem sie ihre Gegner zu größerer Vorsicht zwangen, erstickten sie das Aufkeimen neuen Aberglaubens und wurden, well man sie verfolgte, tolerant. Nur in der heiligen Freistätte der in protestantischen Staaten eingeführten Duldung konnte sich die menschliche Vernunft entwickeln, pflegten Weise die Philosophie, erweiterten sich die Grenzen unsres Wissens. Hätte Luther auch weiter nichts getan, als daß er die Fürsten und Völker aus der Knechtschaft befreite, in der sie der römische Hof gefesselt hielt, so verdiente er schon, daß man ihm als dem Befreier des Vaterlands Altäre errichtete. Hätte er den Schleier des Aberglaubens auch nur zur Hälfte zerrissen, wieviel Dank wäre ihm die Wahrheit nicht schuldig! Der strenge, kritische Blick der Reformatoren hielt die Väter auf dem Konzil zu Trient1 zurück, als sie schon die Jungfrau zur vierten Person der Dreieinigkeit machen wollten. Immerhin gaben sie ihr zur Entschädigung den Titel Mutter Gottes und Königin des Himmels.

Die Protestanten zeichneten sich durch strenge Tugend aus und zwangen dadurch den katholischen Klerus zu gesitteterem Wandel. Die Wunder hörten auf. Es wurden weniger Heilige kanonisiert. Der päpstliche Stuhl wurde nicht mehr durch den ruchlosen Wandel der Päpste besteckt. Die Fürsten waren vor Bannsirahlen sicher. Die Kirchen wurden seltener mit Interdikt belegt, die Völker nicht mehr ihrer Eide entbunden, und die Ablaßbriefe kamen außer Mode.

Noch einen andren Vorteil brachte die Reformation: die Theologen so vieler Sekten mußten nun mit der Feder kämpfen und waren daher genötigt, etwas zu lernen. Das Wissensbedürfnis machte sie gelehrt. So blühte die Beredsamkeit Griechenlands und des alten Roms wieder auf. Zwar benutzte man sie nur zu abgeschmackten theologischen Streitschriften, die kein Mensch lesen kann, aber es erschienen


1 1545—1563.