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Totengespräch
zwischen
dem Herzog von Choiseul, Graf Struensee und Sokrates
(Februar 1772)

Der Herzog von Choiseul kann seit seiner Verbannung234-1 für bürgerlich tot gelten. Auch Herrn von Struensee234-2 kann man schon als zum Tode verurteilt ansehen durch den Spruch, der über ihn gefällt werden wird. Einen Autor, der es mit der Chronologie nicht genau nimmt, hindert also nichts, sie als längst verstorben zu behandeln und sie in den Gefilden der Einbildung zusammentreffen zu lassen, wo nach der Mythologie der Heiden, Christen, Muselmanen und fast aller Völker der Erde die Schatten miteinander Zwiesprache halten.

Choiseul: Nein, Sie mögen sagen, was Sie wollen, ich bin untröstlich, nicht mehr in Versailles zu sein, Frankreich nicht mehr zu beherrschen, nicht mehr von mir reden zu machen! Wie trübselig ist das Schattendasein!

Sokrates: Nicht trübseliger als andere Dinge. Welche Wut beseelt Dich, ein Volk beherrschen zu wollen, das von Dir nicht beherrscht sein will? Und warum beschwerst Du Dich, den ewigen Naturgesetzen unterworfen zu sein, wie jeder andere Sterbliche?

Choiseul: Ich bin in Frankreich nicht so verhaßt, wie Du meinst. Als eigentlicher König und Herr besaß ich das Geheimnis, viele an mich zu fesseln, sei es durch Dienste, die ich ihnen erwies, durch Ämter, die ich zu vergeben hatte, oder durch Freigebigkeit, die mir nichts kostete. Man hat mein Scheiden betrauert. In ganz Frankreich ist kein Mensch mir an Geist gleich. Welche Rolle spielte ich! Ich störte Europas Frieden ganz nach meinem Belieben. Ich übertraf Richelieu und Mazarin!

Sokrates: Jawohl, in Kniffen, in bösartigen Ränken, in Gaunerstreichen; denn Du warst ein ausgemachter Spitzbube. Aber weißt Du nicht, daß niemand Deines<235>gleichen um seinen Ruf beneidet? Die Tugendhaften verabscheuen euch, ihre Meinung gibt in der Welt schließlich den Ausschlag, und sie diktieren das Urteil der Nachwelt. Du wirst in der Geschichte nur als berühmter Störenfried gelten, als Rakete, die einen Augenblick blendet, doch bald in dem Rauche verlischt, den sie selbst erzeugt.

Choiseul: Wahrhaftig, Herr Sokrates, Sie sind gallig; denn das müssen Sie sein, um einen Minister wie mich nicht anzuerkennen. Die französische Monarchie ist keine athenische Republik.

Sokrates: Du wähnst Dich noch in Versailles mit Deinem Weibe, oder vielmehr Deiner Schwester, Frau von Grammont235-1, von kriechenden Schmeichlern umgeben. Da log Dich die Falschheit unter der Maske der Höflichkeit reichlich an. Teils aus Furcht vor Deiner Macht, teils aus schnödem Eigennutz streute man Dir Weihrauch und sang Loblieder auf Deine Torheiten. Hier braucht keiner den anderen, hier beweihräuchert man keinen und sagt nur die lautere Wahrheit.

Choiseul: Ach, welch ein übler Aufenthaltsort! Wie verdrießlich ist es für einen Versailler Höfling, was sag' ich, für einen allmächtigen Minister, mit so plumpen Flegeln leben zu müssen! Doch was seh' ich da? Was für ein Wesen schickt man uns aus der anderen Welt zu? Was ist das für eine Bestie? Sie hat keinen Kopf! Gott verdamm' mich, ich glaube, es ist der heilige Dionysius. Wer bist Du, Mensch ohne Kopf?

Struensee: Ich habe leider nicht die Ehre, heilig zu sein, ich bin sogar ein Ketzer. Ich kam ohne Kopf her; denn man brauchte ihn in dem Lande, wo man ihn mir abschlug, well man sonst keinen anderen hatte.

Choiseul: In Frankreich ist man nicht so brutal. Bei uns sind die Gesetze für das Volk da und nicht für die Großen. Wir werden nicht geköpft. Aber welche Rolle spieltest Du auf Erden und warum hat man Dich derart behandelt?

Struensee: Ich bin Graf Struensee, einer von denen, die alles ihrem eigenen Verdienst danken; ich bin meines Glückes Schmied. Ich war Arzt in Holstein, als der Beherrscher Islands, Norwegens, Holsteins und Dänemarks nach Kiel kam. Er war schwer krank; ich heilte ihn glücklich, gewann seine Gunst und mehr noch die der Königin, die mich nicht mit gleichgültigen Blicken betrachtete. Ich wurde Minister und wollte Herrscher werden. Ich dachte wie Pompejus: ich wollte keinen Gleichen neben mir dulden. Ich fand Mittel und Wege, meinen Gebieter zu fesseln. Um ihn in Abhängigkeit zu erhalten, ließ ich ihn so viel Opium schlucken, daß er davon verblödete; dann wollten ich und die Königin uns zu Regenten des Reiches machen. Wenn man der Zweite ist, will man gern der Erste sein. Ich schuf mir einen großen Anhang. Wir waren im Begriff, den Monarchen für regierungsunfähig zu erklären.<236> Unvermutet ward ich des Nachts verhaftet und in Ketten gelegt. Die Dänen kannten Machiavell nicht; sie sahen das Große nicht, das in meinem Benehmen lag. Nachdem ich der eigentliche König gewesen war, schlug man mir den Kopf ab. Aber wer sind Sie, Herr Frager?

Choiseul: Ich bin der berühmte Herzog von Choiseul, vormals König von Frankreich, wie Sie von Dänemark. Auch ich war allein das Werkzeug meines Glückes; durch mein Ränkespiel erlangte ich den Platz neben dem Thron — oder auf dem Thron, wenn Sie wollen — und verlieh ihm den höchsten Glanz. Ich bin der UrHeber des berühmten Familienvertrages, durch den ich Spanien zum Opfer eines Teils seiner Flotte und seiner amerikanischen Besitzungen bewog, nur um die Ehre zu haben, Frankreich beizustehen, als es am Ende seiner Kräfte war, erschöpft durch den Krieg, den es mit England in Deutschland führte, geschlagen zu Wasser und zu Lande236-1. Unter solchen Umständen gelang es mir, einen möglichst vorteilhaften Frieden zu schließen und ...

Sokrates: Das ist das einzig Vernünftige, was Du zeitlebens vollbracht hast.

Choiseul: Es freut mich, daß Sie wenigstens etwas an mir loben. Seitdem vertrieb ich die Jesuiten aus Frankreich236-2, weil ich mich als Gesandter in Rom mit ihrem Ordensgeneral verfeindet hatte236-3.

Sokrates: Zu meiner Zeit gab es solches Gezücht nicht. Aber andere Verstorbene haben mir erzählt, es wären Sophisten, die mit Dolch und Gift arbeiten. Sollte Herr von Struensee wohl zu ihrer Sekte gehören?

Struensee: Ich gehöre zur Sekte Cromwells, Cäsar Borgias und Catilinas. Aber fahren Sie fort, mich zu belehren, Herr Herzog.

Choiseul: Nach diesem schönen Streich setzte ich mich in den Besitz von Avignon236-4. Ich vertrieb den Papst daraus, um die Grafschaft für ewig dem Königreich Frankreich einzuverleiben. Ebenso gewann ich Korsika, das ich den Genuesen geschickt fortstibitzte236-5.

Sokrates: Du warst also ein Eroberer?

Choiseul: Diese Eroberungen machte ich von meinem Kabinett aus. In Vergnügen und Zerstreuungen schwimmend, am Busen der Wollust störte ich den Frieden Europas. Je aufgeregter die anderen Mächte waren, um so ruhiger konnte Frankreich sein. Die Kriege und die Mißwirtschaft meiner Vorgänger hatten unsere Finanzen zerrüttet; der Kredit war dahin, und der Staatsbankrott stand vor der Tür.

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Struensee: Auf welche Weise störten Sie den Frieden Europas?

Choiseul: Kein Mensch hat sich je etwas Schlaueres, Geschickteres, Raffinierteres ausgedacht. Erstens legte ich unter falschem Namen große Kapitalien in der englischen „Ostindischen Kompagnie“ an. Meine Agenten ließen die Kurse je nach Belieben steigen und sinken. Dadurch entstand allgemeine Verwirrung, und die Direktoren der Gesellschaft entzweiten sich, während ich durch geschickte Machenschaften die indischen Rabobs gegen England aufwiegelte. Es kam zwischen ihnen zum Kriege, und die Gesellschaft machte beinahe bankrott. Ich wäre vor Freude fast gestorben.

Sokrates: Edle Seele!

Choiseul: Andrerseits hetzte ich die Reuchâteller gegen den König von Preußen auf237-1, um diesen unruhigen Geist daheim zu beschäftigen. Aber all diese Dinge, die ich nebeneinander lenkte, wie die Römer ihr Viergespann, genügten mir noch nicht. Durch große Summen, die ich im Diwan austeilte, brachte ich die Türken zum Krieg gegen Rußland237-2, schürte die polnische Konföderation, um Katharina einen Strich durch die Rechnung zu machen, und wollte Schweden gegen sie aufstacheln. Eine Diversion von jener Seite hätte der den Russen unterlegenen Pforte Lust geschafft. Ja, ich hätte die Kaiserin-Königin sogar dahin gebracht, Mustapha beizustehen, hätten mich meine Feinde nicht gestürzt.

Struensee: Schade, daß so viele schöne Pläne nicht zur Ausführung kamen!

Choiseul: Sicherlich. Ich hätte so viel Lärm gemacht, so viel Intrigen angezettelt, daß ganz Europa nur von mir gesprochen hätte.

Sokrates: Denke an Herostrat, der den Tempel von Ephesos ansteckte, um berühmt zu werden!

Choiseul: Das war nur ein Brandstifter, ich aber war ein großer Mann. Ich spielte auf unserem Erdball die Rolle der Vorsehung. Ich entschied alles, ohne daß irgendwer merkte, wie es geschah. Man sah nur die Schläge, aber nicht die Hand, die sie führte.

Sokrates: Tor! Wagst Du Dich mit der Vorsehung zu vergleichen, Deine Schurkenstreiche mit der Allmacht, Deine Verbrechen mit dem Urbild der Tugend?

Choiseul: Jawohl, Herr Sokrates, ich wage es. Möge Ihr graues Haupt erfahren, daß Staatsstreiche keine Verbrechen sind, und daß alles, was Ruhm bringt, groß ist. Denken Sie daran, daß Ihre Griechen Männer, die nicht an mich heranreichten, zu Halbgöttern erhoben.

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Sokrates: Er schnappt über; die Anfälle werden immer stärker. Geh und wende Dich an Hippokrates; er ist hier in der Nähe, er wird Deinen Wahnsinn heilen.

Choiseul: Herr Graf Struensee ist noch näher. Er würde mir diesen Dienst erweisen, wenn ich ihn nötig hätte (allerdings ohne Opium). Ach! Dieser schweigsame Weise! Für Wahnsinn hält er den edlen Stolz und das berechtigte Selbstvertrauen jedes großen Mannes!

Struensee: Sie bedürfen keiner Kur; Sie verdienen das größte Lob. Machiavell hätte Ihnen die Krone des Staatsmanns aufgesetzt. Aber warum wurden Sie verbannt?

Choiseul: Ein Kanzler238-1, der noch durchtriebener war als ich, setzte es mit Hilfe einer Favoritin238-2 durch, der ich mich zu beugen zu stolz war.

Struensee: Nachdem Sie so schöne Dinge so glücklich vollbracht hatten, unter welchem Vorwand konnte man Sie da verbannen?

Choiseul: Man führte die Zerrüttung der Finanzen ins Feld. Es widerstrebte Ludwig, sich als Urheber eines Staatsbankrotts zu sehen. Er wollte die Dinge hinziehen, um die öffentliche Erbitterung, die dieser Zusammenbruch gegen ihn erregen mußte, auf seinen Enkel238-3 zu vererben. Man bezichtigte mich also, während meiner Regierung das Geld mit vollen Händen ausgestreut zu haben; und fürwahr, ich verachtete das schnöde Metall; ich war freigebig; ich war mit der edlen Gesinnung eines Königs geboren, der hochherzig, ja verschwenderisch fein soll.

Sokrates: Meiner Treu, Du warst ein Erznarr, den Ruin Deines Landes zu vollenden.

Choiseul: Mein Geist trachtete nach Großem, und sicherlich liegt etwas Großes darin, wenn eine Monarchie wie Frankreich bankrott macht. Das ist nicht wie der Zusammenbruch eines Krämers; hier geht es um Milliarden; das Ereignis macht Aufsehen, verblüfft diesen, zerschmettert jenen und wirft auf einen Schlag eine große Zahl von Vermögen um. Was für ein Theatercoup!

Sokrates: Frevler!

Choiseul: Herr Philosoph, lassen Sie sich gesagt sein: wenn man die Welt regiert, darf man kein enges Gewissen haben.

Sokrates: Geh mir! Um Tausende von Bürgern ins Unglück zu stürzen, muß man wild wie ein Tiger sein und ein Herz von Stein haben!

Choiseul: Mit Ihren Ansichten mochten Sie am Kerameikos238-4 glänzen, aber Sie wären nur ein armseliger Minister geworden.

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Struensee: Sicherlich. Ein großer Geist gibt sich durch kühne Unternehmungen kund. Es muß etwas Neues sein. Er führt beispiellose Pläne aus, läßt die kleinlichen Bedenken den alten Weibern und geht stracks auf sein Ziel, ohne nach den Mitteln zu fragen, die ihn dahin führen. Nicht jedermann vermag unser Verdienst zu ermessen, die Philosophen noch weniger als andere; und doch fallen wir für gewöhnlich den Hofintrigen zum Opfer.

Choiseul: Ich fiel folgendermaßen. An unserem Hofe vermag das Verdienst nichts gegen die Launen einer Metze; außerdem wurden sie ihr noch von einem Schulfuchs im Talar eingeblasen. Denn was vermochte sie selbständig, außer das fast erloschene Feuer eines Fürsten zu schüren, der jederzeit ein Weiberknecht gewesen?

Struensee: Hätten Sie Opium gebraucht, um Ihren Monarchen einzuschläfern, so waren alle Intrigen umsonst. Sie wären noch heute Minister oder vielmehr König; denn wer die Macht hat und handelt, ist der wirkliche Herrscher, der aber, der ihn gewähren läßt, höchstens sein Sklave.

Choiseul: Das Opium war überflüssig. Die Natur hatte meinen Gebieter schon so gemacht, wie der Ihre es durch Ihre Arzneien wurde.

Sokrates: Dein Opium hat Dir gute Dienste geleistet, unglücklicher Abtrünniger des Hippokrates! Du wardst darum nicht mehr und minder eingekerkert und nicht gelinder bestraft, als Du es verdientest.

Struensee: Der Schicksalsschlag war nicht vorherzusehen. Welch ein Unglück, verdrängt zu werden, und noch dazu von was für Leuten!

Sokrates: Nein, das war eine Folge der ewigen Gerechtigkeit, damit nicht alle Verbrecher glücklich sind und wenigstens einige bestraft werden — zum warnenden Beispiel für die Lasterhaften.

Choiseul: Ich hoffe trotzdem, daß Sie meinen Sturz bedauern. Denn hätte ich weiter regiert, so hätte ich Europa in Staunen gesetzt durch die großen Dinge, die mein Geist ersonnen und ausgeführt hätte.

Sokrates: Du hättest auch weiter glänzende Torheiten vollbracht. Besäße Europa ein Narrenhaus, Du gehörtest hinein. Und was Dich betrifft, Däne, so wäre die Marter des Ixion und Prometheus noch zu gelind für Deinen schwarzen Undank gegen Deinen Herrn und für all die Verbrechen, die Du aus zügellosem Ehrgeiz begingest!

Choiseul: Das ist also der Ruhm, den ich erwartete! Struensee: Das ist also der Ruf, den ich mir versprach!

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Sokrates: Fort, Ihr Unseligen! Sucht Euch andere Gesellschaft als die meine. Tut Euch mit Catilina und Cromwell zusammen und besudelt die Wohnung der Weisen nicht länger durch Eure unreine Gegenwart!

Choiseul: Verlassen wir diesen unverschämten Schwätzer. Er fällt mir zur Last.

Struensee: Verlassen wir diesen düsteren Sittenprediger. Aber wohin? Ich will die Gesellschaft meiner deutschen Landsleute aussuchen und mich mit Wallenstein über mein Unglück trösten. Leben Sie wohl, König ohne Staat!

Choiseul: Ich für mein Teil gehe zu den Franzosen und suche den Hausmeier Pipin auf. Leben Sie wohl, Minister ohne Kopf!


234-1 Choiseul war der Premierminister Frankreichs. Seine Entlassung und Verbannung erfolgte am 24. Dezember 1770. Vgl. S. 7.12.14f. 23 f. und die Satire „Die Choiseulade“ (Bd. X).

234-2 Für den dänischen Premierminister Graf Struensee vgl. S. 38 ff. Er wurde in der Nacht zum 18. Januar 1772 gestürzt und am 28. April enthauptet.

235-1 Die Herzogin Beatrix von Grammont war bereits im Juli 1770 verbannt worden.

236-1 In dem bourbonischen Familienpakt vom 15. August 1761 garantierten sich die aus bourboniWem Stamm entsprossenen Herrscherhauser von Frankreich, Spanien, Neapel und Parma gegenseitig ihren Besitz. Wr Spaniens Teilnahme am Kriege gegen England vgl. Bd. IV, S. 121 ff.

236-2 1762.

236-3 Choiseul war 1754-1757 Gesandter in Rom gewesen.

236-4 1768.

236-5 Durch den Versailler Vertrag vom 15. Mai 3768 trat Genua Korsika gegen Geld ab.

237-1 Das Fürstentum Neuchâtel war 1707 an Preußen gelangt (vgl. Bb. I, S. 110). Wegen einer angeblichen Verletzung der Privilegien des Landes kam es 1766 zum Aufruhr. Der Streit wurde 1768 durch Vergleich geschlichtet.

237-2 Vgl. S. 14f.

238-1 Maupeou (vgl. S. 24)

238-2 Gräfin du Barry (vgl. S. 24).

238-3 Der spätere König Ludwig XVI.

238-4 Der athenische Töpfermarkt, wo Sokrates oft seine Dispute führte.