<275> Steuerlast der Völker, durch welche die gewaltigen Summen aufgebracht werden mußten, und vor allem das Blut so vieler Tausende, mit dem diese Eroberungen erkauft sind? Wen rührte nicht das Schicksal so vieler Unglücklicher, welche die Opfer dieses verhängnisvollen Zwistes sind? Geht einem aber schon das Unglück eines Privatmanns zu Herzen und hegt man schon Mitleid mit einer ganzen Familie, die ein Schicksalsschlag ins Elend stürzt, wieviel größer muß dann die Teilnahme sein, wenn man die Katastrophen der blühendsten Reiche und der mächtigsten Monarchien Europas sieht? Ja, das ist die schönste Lehre der Mäßigung, die man jemandem geben kann. Durch Betrachtung der Klippen, der Schiffbrüche und der Trümmer auf dem Wege des Ehrgeizes öffnet man das Ohr der Stimme der Erfahrung, die uns zuruft: „Könige, Fürsten, künftige Herrscher! Möge die Sage von Ikarus, die uns die Bestrafung des Ehrgeizes vor Augen führt, euch immerdar von dieser unersättlichen, wilden Leidenschaft abhalten!“

Mehr noch: wenn der große Ludwig XIV. wundersame Schicksalsschläge erfuhr, wenn Karl XII. beinahe seine Staaten einbüßte, wenn König August in Polen entthront und sein Sohn in Sachsen abgesetzt ward1, wenn der Kaiser2 aus seinen Erblanden vertrieben ward, welcher Sterbliche dürfte sich dann gleichen Schicksalen überlegen fühlen und sein Glück aufs Spiel setzen gegen die Ungewißheit aller Ereignisse, die Dunkelheit der Zukunft und gegen jene unberechenbaren Zufälle, welche die Weisheit der tiefsten und geistvollsten Pläne in einem Augenblicke vernichten? Die Geschichte der Begehrlichkeit ist die Schule der Tugend: der Ehrgeiz erzeugt Tyrannen, die Mäßigung Weise!


1 August II. wurde 1704 in Polen entthront; die Angabe einer Absetzung Augusts III. in Sachsen beruht auf Irrtum.

2 Karl VII.