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12. An Jordan36-1
(Bei Übersendung eines Schreibzeugs)
(Mai 1738)

Jordan, ein guter Maler oder Dichter
Soll glänzen durch den Reiz der Ähnlichkeit
Der kühnen Züge, der genauen Lichter
Mit jenem Urbild, dem sein Werk sich weiht.
Der Maler muß, wenn er gewissenhaft,
Im Bilde spiegeln Farben, Mienen, Haltung
Und jeden Eindruck, den Natur verschafft;
Der Dichter, frei von hohler Prunkentfaltung,
Muß auf das Beiwort sehn, damit es ganz
Ihm für die Kunst getreuer Schildrung tauge:
Des einen Urteil ist des andern Auge.
Man malt nicht Cato mit 'nem Rosenkranz,
Petrus im Wams, die Jungfrau voller Flitter;
Die Mode wechselt wie die Jahreszeit.
Ein jedes Alter trägt sein eignes Kleid;
Eins ist voll Lust, das andre trüb und bitter;
Weil jedes andre Neigungen beseelen,
Muß man für jedes andern Ausdruck wählen.
Daß ich nur keinen tollen Reimer finde,
Der faul und roh Fortuna ohne Binde
Und standhaft darzustellen sich erlaubt,
Der Zeit die Schwingen und die Sichel raubt,
Dem Tod verleiht ein frisches Mönchsgesicht,
Statt Nektar Antimon uns wagt zu reichen;
Denn sachgemäßen Zierat kennt er nicht,
<37>Läßt einen Zwerg er einem Riesen gleichen,
Den Zoilus dem rühmlichen Voltaire,
Broglie,37-1 den Unglückswurm, Conde, dem großen.
Ein Maler und ein Dichter darf vielmehr
Nie gegen Wahrheit stumpf und blind verstoßen.
Er zeig' uns durch geschärfte Sehergabe
Ein jedes Ding an seinen Platz gestellt;
Der König throne mit dem Herrscherstabe,
Cäsar sei angetan als Römerheld;
Erasmus, Jordan sei mit Lebenswahrheit
Der Haltung über Studien gebückt,
Auf einen Arm gestützt, im Auge Klarheit,
Den Geist der niedren Sinnenwelt entrückt,
Nachgrübelnd irgend einer Redezier
Und vor ihm Feder, Schreibzeug und Papier —
Halt, Muse! Weiser Jordan, liebenswerter
Noch als Erasmus, ja, wohl noch gelehrter,
Jedoch viel ärmer durch des Schicksals Haß,
Das Reichtum zu erwerben dir versagte;
Nur Bücher hast du, die der Wurm zernagte,
Bist ohne Dach, selbst ohne Tintenfaß —
Die Nachwelt wäre hinters Licht geführt,
Wenn meine Muse wagte zu besingen
Dein Schreibzeug; doch weil Ehre dir gebührt,
Drum will sie sich als Plutus dir verdingen.
Nimm hin das Ruhmgerät von meiner Hand,
Die Speiseschüssel für Apollos Sprossen,
Jeglichen Autors treuen Kampfgenossen,
Das Werkzeug aller, die gern viel genannt
Im Amte sind, als Anwalt, beim Gerichte;
Ein Bernard,37-2 Fleury,37-3 Réaumur, Voltaire
Ergießen glorreich draus ein Tintenmeer,
Und Rollin schöpft draus Bände voll Geschichte.
Aus deinem Geist schon seh' ich mit Getos
Sturzbäche deiner hohen Weisheit quellen
Und aufgereiht auf meinen Buchgestellen
Dein Lebenswerk in dicken Folios,
<38>Das wie ein Kindersegen unterdessen
In neuen Bänden wimmelnd sich vermehrt;
Seh dich von ihrer Zentnerlast beschwert
Hans Carvels wundersamen Ring38-1 vergessen.
O Jordan! Denk', daß alle Forscherpein
Und Kraft und Zeit umsonst vergeudet werden,
Kurz, daß man nichts vollbringt, wenn man auf Erden
Nicht das Geheimnis lernt, beglückt zu sein.


36-1 Vgl. Bd. VII, S. 275: VIII, S. 211 ff.; IX, S. 163 ff.

37-1 Franz Maria Graf Broglie (vgl. Bd. II, S. 94; V, S. 173 f.).

37-2 Anmerkung Friedrichs: „Der Bankier“ (vgl. Bd. I, S. 93; VII, S. 66).

37-3 Claude Fleury, der Verfasser der Kirchengeschichte (vgl. Bd. VIII, S. 103 ff.).

38-1 „Hans Carvels Ring,“ Erzählung von Lafontaine.