<170>

55. Ode an die Deutschen
(29. März 1760)

Ihr unsel'gen deutschen Stämme, stets in Bruderkampf entzweit,
Ihr beseßnen Unruhgeister, seid dem Untergang geweiht!
Ewig Wehgeschrei erschüttert eure Lüfte allerenden,
Langer Kämpfe Schreckensmale euren Heimatboden schänden,
Eure Fluren Wüsteneien, eure Städte Haufen Schuttes,
Unter eurer Waffen Wüten rinnen Ströme roten Blutes;
Gottverflucht eure Triumphe!
Denn sie stürzen unser Land
Nur zurück in wüste, dumpfe
Barbarei, wo doch dem Sumpfe
Längst die Vorwelt sich entwand.

Ach, ein Unhold aus der Hölle, Zwietracht mit den wutentflammten
Funkelaugen, sie entfachte diesen Haß euch, den verdammten,
Diese Mordlust, euch zerstörend ineinander zu verbeißen,
Tempelschändrisch mit den Händen euch das Innre zu zerreißen,
Daß der Himmel, der gerechte, tief beleidigt, nur mit Grauen
Euren Totenfeiern leuchtend, so Unseliges mag schauen.
Ja, aus Furcht, sich zu beflecken,
Möcht' der reine Himmelsstrahl
Sich am liebsten ganz verstecken,
Wie vor jenem blut'gen Schrecken,
Da Thyestes hielt sein Mahl.

Drunten in dem ew'gen Abgrund, den kein Strahl von Reinheit lichtet,
Wo der Haß in Schmutz und Wüsiheit sich den Schreckensthron errichtet,
Dort denkt man sich so gestaltet jene unbotmäß'gen Wesen,