<49> Sein Fehler ist schlechte Logik. Seine Grundsätze stehen miteinander in Widerspruch. Muß nicht auch das Gefühl für Recht und Billigkeit, das die Natur in aller Herzen gelegt hat, sich gegen seine Übergriffe auflehnen? Doch das abscheulichste, schwärzeste und ruchloseste von allen Lastern ist der Undank. Der Undankbare, gegen Wohltaten Unempfindliche begeht ein Majestätsverbrechen an der Gesellschaft. Denn er verdirbt, vergiftet und zerstört die Süßigkeit der Freundschaft. Beleidigungen empfindet er, aber Dienstleistungen nicht. Indem er Gutes mit Bösem vergilt, setzt er der Niedertracht die Krone auf. Aber eine so entartete, unter die Menschheit herabgesunkene Seele handelt gegen ihren eigenen Vorteil; denn jeder Mensch ist — so hoch er auch stehen mag — von Natur schwach und bedarf des Beistandes seiner Nächsten. Ein Undankbarer aber, den die Gesellschaft ausstößt, macht sich durch seine Herzlosigkeit unwürdig, je wieder Wohltaten zu empfangen. Unablässig sollte man den Menschen zurufen: „Seid sanft und menschlich, weil ihr schwach seid und des Beistandes bedürft! Seid gerecht gegen andre, damit die Gesetze auch euch gegen fremde Gewalttat schützen! Tut andren das nicht an, was sie euch nicht antun sollen.“

Ich will in dieser flüchtigen Skizze nicht all die Gründe auseinandersetzen, die die Eigenliebe den Menschen an die Hand gibt, um ihre schlechten Neigungen zu besiegen und ein tugendhaftes Leben zu führen. Bei den engen Grenzen meiner Abhandlung kann ich den Gegenstand nicht erschöpfen. Ich begnüge mich mit der Behauptung, daß alle, die neue Beweggründe zur Verbesserung der Sitten ausfindig machen, der Gesellschaft, ja selbst der Religion einen wichtigen Dienst leisten.

Nichts ist wahrer und handgreiflicher, als daß die Gesellschaft nicht bestehen kann, wenn ihre Mitglieder keine Tugend, keine guten Sitten besitzen. Sittenverderbnis, herausfordernde Frechheit des Lasters, Verachtung der Tugend und derer, die sie ehren, Mangel an Redlichkeit in Handel und Wandel, Meineid, Treulosigkeit, Eigennutz an Stelle des Gemeinsinns — das sind die Vorboten des Verfalls der Staaten und des Untergangs der Reiche. Denn sobald die Begriffe von Gut und Böse verwirrt werden, gibt es weder Lob noch Tadel, weder Lohn noch Strafe mehr.

Ein so wichtiger Gegenstand wie die Moral geht die Religion ebensoviel an wie den Staat. Die christliche, jüdische, mohammedanische und chinesische Moral haben beinahe die gleiche Sittenlehre. Die christliche hat trotz ihrer langen Geltung noch zwei Arten von Feinden zu bekämpfen. Die einen sind die Philosophen, die nur den gesunden Menschenverstand und die streng exakte logische Beweisführung gelten lassen und alle Ideen und Systeme verwerfen, die nicht mit den Regeln der Logik übereinstimmen; doch davon reden wir hier nicht. Die andren sind die Freigeister1, deren Sitten, durch lange Gewöhnung an das Laster verderbt, sich gegen das harte Joch


1 Das französische Wort libertin ist doppelsinnig. Es umfaßt die Ungebundenheit des Denkens und der Sitten.