<36> habe, sei kein Glied. Nun setzte das Parlament fest, die Nase sei künftig als Glied zu betrachten.

Deutliche Gesetze geben keine Gelegenheit zu Rechtsverdrehungen und müssen buchstäblich vollstreckt werden. Sind sie aber unbestimmt oder dunkel, so muß man die Absicht des Gesetzgebers ergründen, und statt über Tatsachen zu richten, beschäftigt man sich mit ihrer Auslegung. Gewöhnlich nährt sich die Schikane nur von Erbschaftssachen und Verträgen. Darum müssen die Gesetze hierüber die größte Deutlichkeit haben. Grübelt man schon bei belanglosen Schreibereien über den Ausdruck nach, um wieviel mehr muß man ihn bei einem Gesetze gewissenhaft abwägen.

Die Richter haben zwei Fallstricke zu befürchten: Bestechung und Irrtum. Vor dem ersten muß sie ihr Gewissen schützen, vor dem zweiten der Gesetzgeber. Deutliche Gesetze, die keine verschiedene Auslegung zulassen, sind das erste Hilfsmittel dagegen, Begrenzung der Verteidigungsreden das zweite. Man kann die Reden der Verteidiger auf Darlegung des Tatbestandes, Unterstützung durch einige Beweise und ein Nach, wort oder eine kurze Zusammenfassung beschränken. Nichts wirkt stärker als der Vor, trag eines beredten Mannes, der die Leidenschaften aufzustacheln weiß. Der Ver, leidiger bestrickt den Geist der Richter, erregt ihre Teilnahme und ihr Gefühl, reißt sie hin, und das Blendwerk des Mitgefühls verdunkelt die Wahrheit. Sowohl Lykurg wie Solon verboten den Advokaten diese Art von Überredung. Wir finden zwar der, gleichen in den „Philippiken“ von Demosihenes oder in der Rede „Über die Krone“ von Aschines, aber diese Reden wurden nicht vor dem Areopag, sondern vor dem Volte gehalten, und die erstgenannten Reden gehörten eher zu der beratenden, die zweite mehr zur belehrenden Gattung als zur forensischen Beredsamkeit.

Die Römer hielten es mit den Reden ihrer Advokaten nicht so genau. Es gibt keine Rede Ciceros, die nicht voller Leidenschaft wäre. Es tut mir leid um ihn, aber aus seiner Rede für Cluentius ersehen wir, daß er vorher die Gegenpartei verteidigt hatte. Die Sache des Cluentius scheint nicht ganz einwandfrei, aber die Kunst des Redners gewann sie. Ciceros Meisterstück ist jedenfalls der Schluß der Rede für Fontejus. Dank ihm ward er freigesprochen, obwohl er schuldig scheint. Welcher Mißbrauch der Beredsamkeit, wenn man ihren Zauber benutzt, um die weisesten Gesetze zu entkräften!

In Preußen hat man das Vorbild Griechenlands befolgt. Aus unsern Verteidigungsreden sind die gefährlichen Kunstgriffe der Beredsamkeit verbannt. Das verdanken wir der Weisheit des Großkanzlers Cocceji1. Durch seine Rechtschaffenheit, seine Einsicht und seinen unermüdlichen Fleiß hätte er der griechischen und römischen Republik zu der Zeit, wo sie an großen Männern am fruchtbarsten waren, zur Ehre gereicht.


1 Für die Justizreform und die gesetzgeberische Tätigkeit des Freiherrn Samuel von Cocceji, um derentwillen ihn Friedlich auch als neuen Tribonian feierte, vgl. Bd. III, S. 7 f. und VII, S. 118.