<156> ihr habt nicht gewollt1!“ Wie lang ist der Weg für die, deren ganzes leben nur eine einzige Sünde ist!

Wo bliebe die Gerechtigkeit Gottes, meine Brüder, wenn die kalte Umarmung des Todes, die den Elementen die Atome unsres Körpers zurückgibt, den ganzen Menschen vernichtete, wenn das, was in uns lebt und denkt, wenn die tätige und lebendige Triebkraft unsres Handelns dem gleichen Schicksal verfiele wie der Stoff und, wenn ich so sagen darf, unter den gleichen Trümmern begraben würde? O Gott, wohin wäre Deine Gerechtigkeit, wenn Du, der Du die Welt geschaffen und ihr Gesetze gegeben hast, duldetest, daß die, die ihnen gehorchen, in Dürftigkeit, Verachtung und Verfolgung leben, oft in Ketten schmachten und als Bekenner Deines Namens und Deiner himmlischen Wahrheiten die grausamsten Martern erdulden muffen, wogegen es den Verleumdern und Henkern wohlergeht und sie oft auf jene höchste Stufe gestellt sind, die sie auf Erden den Göttern gleichmacht, sofern das bei der gewaltigen Kluft zwischen Gottheit und Menschheit geschehen kann? O Gott, wo wäre Deine Gerechtigkeit, wenn unzählige gute Werke, die unbekannt und verloren sind, wenn so viele Taten der Großmut, die ebenso liebend vollbracht wie bescheiden verborgen werden, nie ihren Lohn fänden, wenn so viele Verbrechen, die ebenso ruchlos voll, führt wie geschickt verhehlt werden, so viele geheime und heftige Leidenschaften, denen nur die Gelegenheit zum Ausbruch fehlte, unbestraft blieben?

Und doch, liebe Brüder, sehen wir das Tag für Tag. Das Leben der meisten Menschen ist gleichsam nur die Geschichte ihrer Missetaten. Das Glück der Verbrecher scheint das Lasier zu rechtfertigen, und wenn alles mit diesem Erdenleben zu Ende wäre, so führte der Weg der Tugend durch Dorngestrüpp nur zu Verzagtheit und Verachtung. Aber nein! Dank der Vorsehung und der Gerechtigkeit des Höchsten hat alles sein Ende, hat alles seine Schranken. Er sieht die Bösen gedeihen und lacht ihres eitlen Wohlergehens. Er hört sein Volk klagen, aber just durch sein Leiden zieht er es zu sich heran und bereitet ihm die ewige Seligkeit. Gott gibt uns hier seine Gesetze und dort unsre Freiheit. Er macht uns zum Schmied unsres Glücks, nicht allein auf dieser Welt, wo das Glück im Zeugnis unsres guten Gewissens besieht, sondern auch in jener Welt, wo uns das ewige Leben und die Gemeinschaft der Gläubigen winkt.

O Gott! Wie heilig sind Deine Gesetze und wie hehr ist ihre Erfüllung! Ich sehe einen Liebesbund zwischen dem Schöpfer und der Kreatur, ich sehe die Pflicht oder die Rückkehr zur Gerechtigkeit zwischen unsresgleichen, die zum gemeinsamen Leben bestimmt sind. Als die Pharisäer und Schriftgelehrten unsren himmlischen Erlöser fragten, worin das Gesetz und die Propheten bestünden, da antwortete er: „liebet Gott und liebet euren Nächsten.“ Darin, meine Brüder, liegen alle unsre Pflichten. Die ganze Welt, vor allem aber unser eignes Dasein mahnt uns zur Dankbarkeit gegen unsren göttlichen Wohltäter. Ja, ich wage zu sagen, die Notwendigkeit gesell-


1 Nach Matthäus XXIII, Vers 37.