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Schreiben eines Schweizers an einen venezianischen Nobile
(September 1758)

Mein Herr! Sie wollen von mir wissen, was in Deutschland Neues vorgeht. Sie kommen an die falsche Adresse. Bei meinem zurückgezogenen Leben kümmere ich mich wenig um die erlauchte Räuberei unserer modernen Helden; ich lebe nur im Altertum und beschränke meine Wißbegier auf die Neuigkeiten von Haus, Herd und Garten.

Sie fragen weiter, ob ich glaube, daß die Verschwörung so vieler Monarchen zur Unterdrückung eines Einzigen194-1 den Gesetzen der natürlichen Billigkeit entspricht. Auf diese Rechtsfrage ist die Antwort leicht, zumal meine Zurückgezogenheit mich der unerbittlichen Rache der kleinen Tyrannen entrückt, die unser armes Europa beherrschen oder vielmehr auf den Kopf stellen. Erinnern Sie sich bitte, daß ich in einem Freistaate lebe, dessen Bräuche und Gewohnheiten ich seit geraumer Zelt angenommen habe, und daß ich mich nicht so weit erniedrigen kann, meine Gedanken zu verhüllen und mit Ihnen in der Sprache der Höfe zu reden, in der auch die Ehrlichsten ihre Gefühle nur zum geringsten Teil andeuten und durchblicken lassen. Ich antworte Ihnen mit dem Freimut eines Philosophen, der sein Herz an nichts auf der Welt hängt und daher ohne Furcht und Hoffnung lebt.

Wer zugibt, daß Cartouche und seine Bande unschuldig hingerichtet worden sind194-2, könnte auch das Verfahren Ihrer Staatsmänner entschuldigen: sie wollen sich in die Staaten eines Fürsten teilen, die ihre Begehrlichkeit und ihren Neid erregen. Mußte jedoch die Justiz, wie Sie wohl nicht bezweifeln, Cartouche und seine Spießgesellen hinrichten lassen, um Mord, Raub und Plünderung zu verhindern und die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen, so werden Sie zugeben müssen, daß die hochgestellten Personen, die das gleiche Verbrechen begehen, die gleiche Straft verdienen. Ob eine<195> obskure Räuberbande ein paar Morde begeht und einige Bürger ausraubt, oder ob ein mit den erlauchtesten Namen prunkendes Bündnis sich das Ziel setzt, Europa durch Krieg zu verheeren, um einen Fürsten auszurauben, der keinen Bundesgenossen hat als seine eigene Kraft — es bleibt doch wohl das gleiche. Besieht aber ein Unterschied, so liegt er darin, daß die Wirksamkeit dieser Staatsmänner von größerer Tragweite ist, somit um so verbrecherischer wird durch all das Unglück und Elend, das nicht nur einige Bürger oder Familien trifft, sondern ganze Völker und Nationen.

Gewiß hätte Cartouche an der Stelle dieser Leute, die ganz Europa gegen eine einzige Macht in Aufruhr bringen, nicht anders gehandelt. Vergleichen Sie sein Benehmen mit dem Ihrer Staatsmänner, so finden Sie das gleiche Verfahren, die gleichen Mittel und ein ähnliches Ziel. Da Cartouche allein zu schwach war, um große Räubereien zu vollführen, rottete er sich mit einer Anzahl von Verbrechern, von Armen und Elenden zusammen, die wie er hundertmal dem Rad und Galgen entronnen waren. Ihre Minister arbeiten an allen europäischen Höfen mit Bestechung und Ränken, um Mitschuldige für ihr Verbrechen zu finden. Sie versichern, die Beute werde gut sein195-1, und versprechen den anderen einen Anteil daran. Kurz, durch Aufstachlung der Ehrsucht und des Eigennutzes gelang es ihnen, jene Verschwörung zu bilden, die der Ruhe Europas so verhängnisvoll ward. Cartouche nahm sich vor, mit seiner Bande ahnungslose Reisende zu überfallen, in Häuser einzubrechen, um sie auszurauben und alles Wertvolle fortzuschaffen. Die Liga, von der Sie reden, will mit möglichster Sicherheit die Staaten eines großen Herrschers plündern, zerstören, verheeren und sie ihm rauben, wenn sie es vermag. Das ist völlig das gleiche. Was Cartouche zum Verbrechen trieb, war große Faulheit, schlechte Wirtschaft, zügelloser Eigennutz und ein verderbliches Hintenansetzen jeder Tugend und jedes Ehrgefühls. Daraus können Sie schließen, daß ähnliche Missetaten die gleichen Ursachen haben müssen, und daß sie nur bei betrüblicher Herzensverderbnis und einer sehr falschen Vorstellung vom wahren Ruhme entstehen können.

Aber da taucht eine ganz andere Frage auf: Sind denn die Großen und die Herrscher verpflichtet, sich in allen ihren Handlungen streng an die Gesetze zu halten, die die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft gewährleisten, oder gibt es Fälle, wo der Vorteil ihrer Staaten und große Interessenfragen sie davon lossprechen können?

Ziehen Sie Machiavell zu Rate, so wird er Ihnen sagen, daß alle Mittel gut und rechtmäßig sind, wenn sie nur dem Vorteil und Ehrgeiz der Fürsten dienen. Das ist Verbrechermoral, und solche Grundsätze sind um so abscheulicher, als man, wenn alle Herrscher sich nach ihnen richteten, besser täte, in Gesellschaft von Tigern, Panthern und Löwen als in der Gesellschaft von derart handelnden Menschen zu leben. Schlagen Sie Hugo Grotius auf, so werden Sie finden, daß dieser weise und gelehrte<196> Rechtskundige nur eine Tugend, eine Moral für alle Menschen gelten läßt, weil die Handlungen an sich gut oder böse sind und die, welche sie vollbringen, ihren Wert und ihre Art nicht verändern. In seinem Buche über das Völkerrecht untersucht er die verschiedenen Gründe zum Kriege bis ins Genauste, wägt alle nach ihrem wahren Werte ab und legt dar, welches die rechtmäßigen und die ungerechten sind. Ich brauche Ihnen diese Stellen wohl nicht auszuschreiben; denn Sie haben ja lange in Deutschland geweilt und sich besonders mit jenem trefflichen Werke befaßt. Es gibt also für alle Menschen nur eine Tugend, eine Gerechtigkeit, deren Vorschriften sich keiner mit Anstand entziehen kann. Hinzu kommt, daß die Herrscher sich doppelt vor Missetaten hüten müßten, weil sie, wenn der Brauch allgemein wird, mehr unter der Wiedervergeltung leiden würden als die Bürger.

Aber, werden Sie fragen, wie kommt es, daß Handlungen, die sich im Grunde gleichen, von der Welt so verschieden aufgefaßt werden? Warum wird Cartouche auf dem Greveplatz gerädert, und warum überhäuft man Ihre Staatsmänner, die nach den gleichen Grundsätzen verfahren, mit Lob? Das kommt von einem lächerlichen Vorurteil, dem zufolge ein Raub ruchlos ist, wogegen Eroberungen ruhmreich sind. Trotzdem ward Cartouche zum Helden eines Epos196-1, weil er in seinem Gewerbe ohnegleichen war, und wenn Alberoni196-2 gelobt wurde, so galt das mehr seinem Genie als seinem Charakter. Seine Pläne waren so umfassend, daß unser Kontinent für sie zu klein schien. Sein unruhiger, tatenlustiger Geist brauchte noch andere Welten als die unsere, um sie umzuwälzen. Die Welt lobte seine großen Entwürfe, die sie blendeten, aber niemand hat ihn als Vorbild aufgestellt, und sicherlich fand die Begeisterung, die seine großen Pläne erweckten, ein reichliches Gegengewicht in dem Abscheu, den seine Ehrsucht und sein Charakter einflößten. Nur tugendhafte Taten machen die Menschen unsterblich; das Lob feiler Söldlinge und Modelaunen währen nicht lange; sie teilen das Los mäßiger Statuen, die wohl Ignoranten gefallen mögen, aber neben Meisterwerke gestellt, verblassen.

In dem ungeheuren Flutschwall von Schmeicheleien, mit denen man die MachtHaber jederzeit überschüttet hat, unter den zahllosen übertriebenen Lobsprüchen, mit denen Redner und Dichter in allen Zeitaltern ihre Schirmherren bedachten, findet man nichts dem Worte Vergleichbares, das Cato für alle Zeiten zur Ehre gereicht: „Sind auch die Götter mit Cäsar, Cato folgt dem Pompejus196-3.“ Offenbar war die Sache des Senats und des berühmten Römers, der sie verfocht, nur insoweit gerecht, als Cato für sie eintrat. Das ist eine Art des Lobes, nach der alle Minister und Machthaber streben sollten; wenigstens wäre es für das Wohl der Menschheit zu wünschen. Um so zu denken, muß man — das werden Sie zugeben — eine glück liche Natur haben, von Liebe zum wahren Ruhm erfüllt sein, muß man Seelenadel und<197> jenes Ehrgefühl besitzen, das in den schönen Zeiten der römischen Republik bei hochherzigen Menschen der fruchtbare Mutterboden wahrhaft heroischer Gesinnungen war. Seit aber die Römer mit der Schlichtheit ihrer Sitten die Unschuld verloren, seit Scipio Karthago besiegt und Mummius Korinth unterworfen hatte197-1, änderte sich offenbar der Charakter der Welteroberer. Die großen Tugenden wurden selten; mit dem Reichtum der Besiegten kamen alle Lasier nach Rom. Man mußte Geld haben, um die Ämter zu kaufen und das Volk zu besiechen. Es genügte nicht, tugendhaft zu sein, sondern man mußte auch für reich gelten. Der Eigennutz, dies niedrige, verlogene Lasier, ward fast zur allgemeinen Krankheit. Luxus und Verschwendungssucht, das Verlangen, sich durch prunkvolle Einrichtung und erlesene Köche hervorzutun, griff um sich, und der persönliche Vorteil siegte über die Liebe zum Vaterland und zum wahren Ruhme. Seitdem findet man bei den Beratungen des Senats nur noch selten Beispiele der alten Seelengröße, die ihn in den Augen der fremden Völker verehrungswürdig gemacht hatte. Derselbe Senat, der eifersüchtig nach der WeltHerrschaft trachtete, wurde unbedenklich in der Wahl der Mittel, die seinen Machtzuwachs erleichtern konnten. Die Folgen dieses Sittenverfalls zeigten sich in den Kriegen, die die Römer mit König Perseus, mit den Ätoliern, mit Antiochus und schließlich mit Jugurtha führten.

Was damals in Rom eintrat, zeigt sich heutzutage in Europa. Die schlimmen Sitten des Zeitalters sind fast allgemein geworden. Die Privatleute bringen sie in die großen Ämter mit, zu denen sie emporsteigen; sie verwalten die Staatsgeschäfte nach den gleichen Grundsätzen wie ihre persönlichen Angelegenheiten.

Ich glaube, mein Herr, ich habe schon zuviel über einen Gemeinplatz gesprochen. Ich wollte einen Brief schreiben, und nun ist es fast eine Abhandlung geworden. Vielleicht finden Sie den Vergleich mit Cartouche zu stark; immerhin werden Sie zugeben müssen, daß er zutrifft. Ich möchte, daß all die Ehrgeizigen und Selbstsüchtigen, all die Verbreiter der öffentlichen Seuchen, die unseren armen Erdteil so um barmherzig verheeren, wenigstens erfahren, daß ihre Bosheit sie in den Augen der gerechten Nachwelt nicht achtbar machen, daß das Urteil der künftigen Zeiten nicht günstiger lauten wird als das, welches ich auf Ihre Veranlassung kühn ausgesprochen habe.

Das Böse, das diese erlauchten Verbrecher verüben, erreicht mich in meinem stillen Erdenwinkel nicht; all diese tragischen, blutigen Ereignisse sind für mich nur ein Schauspiel. Europa ist für mich bloß eine Zauberlaterne; ich habe kein anderes InMesse als das der Menschlichkeit. Ich wünschte, man setzte dem Mord und Totschlag und all den Greueln, vor denen die Natur schaudert, ein Ziel, und machte sich klar, daß unser armes Geschlecht, das der Tod auf so mancherlei Art bedroht, nicht erst der Bosheit einiger galliger Staatsmänner bedarf, um schneller zum Orkus zu fahren.<198> Ich wünschte schließlich, die Weltbeherrscher würden vernünftig und alle Menschen glücklich. Das aber, werden Sie sagen, sind Visionen wie der Platonische Idealsiaat, oder vielleicht denken Sie von mir dasselbe, was man von dem verstorbenen Abbé St. Pierre198-1 sagte: daß er den Traum eines Ehrenmannes träumte. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar. Ich will lieber als Ehrenmann träumen, denn verbrecherische Taten begehen.

Doch genug jetzt! Ich merke, ich falle in die Fehler meines Alters. Sie haben mich zum Reden gebracht, und ich habe schon zuviel geschwatzt. Ich hoffe, Sie verzeihen es mir angesichts der Hochachtung, mit der ich verbleibe usw.


194-1 Gemeint ist die Versailler Offensivallianz vom 1. Mal 1757 gegen Preußen, sowie das Bündnis, das Rußland am 2. Februar 1757 mit Österreich schloß, nachdem es am 11. Januar 1757 bereits der Versailler Defensivallianz vom 1. Mai 1756 beigetreten war (vgl. Bd. III, S. 58f.).

194-2 Cartouche, das Haupt einer berüchtigten Räuberbande, war 1721 in Paris hingerichtet worden.

195-1 Fußnote zur Flugschrift: „Diese zierliche Wendung findet sich in einem der nach Petersburg gerichteten und in den „Beweisschrlften und Urkunden“ (vgl. Bd. II, S. 43) abgedruckten Schreiben des Grafen Brüht.“

196-1 Offenbar ist das Lustspiel „Voleurs et des tours de gueux“ von Legrand und Riccoboni gemeint, in dem Cartouche noch während des Prozesses auf die Bühne gebracht wurde (vgl. Bd. VII, S. 33).

196-2 Vgl. S. 188.

196-3 Nach Lucanus, Pharsaliae I, 128.

197-1 146 v. Chr.

198-1 Vgl. S. 183.