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8. Epistel über das wahre Glück
(5. Dezember 1736)

Hinter dem Glück rennt doch alles her!
Ach, und dabei, wie häufig nur sind es
Trügende Hoffnungen, die uns beseelen,
Ist es ein Tappen, ein Irren, ein blindes,
Daß wir das Wertvolle, Echte, verfehlen,
Nur ein Scheingut erwischen, nicht mehr.
Doch dem unbändigen Glücksbegehr
Ist nichts zu steil und nichts zu schwer.
Und so geben wir keine Ruh,
Setzen mit Wünschen den Göttern zu;
Nur wie das ausschaut, wonach wir streben —
Ja, wer vermöchte das anzugeben?...

Wer heißt den alten Kriegsmann dort
Sich schinden und placken fort und fort?
Wer heißt ihn, sich jedes stille Behagen,
Sich Ruhe und Rast so grausam versagen?
Er glaubt, er hätte es zu was gebracht,
Zu Lorbeer und Ehren, sein Glück sei gemacht;
An Jahren gebeugt, an Wunden reich,
Käme ihm keiner der Marsjünger gleich.
Dann, wie im Arsenal der Rost verzehrt
In Friedenszeiten Rüstung und Schwert,
So muß auch Belisar22-1 Hungers sterben —
Um sich Nachruhm zu erwerben.
Oder soll er, heimgekehrt vom Streit,
<23>Am Hofe in tiefster Ergebenheit,
Mit glatt- gewandter Höflingskunst
Buhlen um der Räte Gunst?...

Der Fürst, in seinen Gemächern verborgen,
Hat für den Frieden der Welt zu sorgen;
Von dort aus gebeut er der Heldenschar.
Denn Monseigneur ist ganz und gar
Politiker nur, und mit Seherblick
Ermißt er künftiger Tage Geschick.
Doch was er sich so fein erdichtet,
Sieht er durch Karl und Ludwig vernichtet,
Die auf eignen Wegen andres beschlossen. 23-1
Dann ist er natürlich enttäuscht und verdrossen.
Dann wettert und zankt er ganz lästerlich,
Gestikuliert und ereifert sich
Mit rotem Kopfe und großem Geschrei
Wider das ganze Menschengeschlecht,
Klagt, welch ein trauriger Deuter er sei
Der Zukunft Zeichen: nie träf' er's recht!

Da muß sich freilich die Frage erheben:
Was soll's überhaupt für ein Glück noch geben?
Wenn irdisch Gut, wenn Ruhm und Ehren
Der Menschenbrust kein Genügen gewähren,
Dann soll guter Rat wohl teuer sein ...

Wohlan denn, nach all diesen Lebensbildern
Versuchen wir schließlich, mit leichter Hand
Einmal das vollkommene Glück zu schildern,
Das ungetrübte, wie wir's erkannt:
Das wahre Glück, das ihr ausgeschlagen,
Um einem Trugbild nachzujagen!
Seht Varro: mit seinesgleichen in Frieden,
Ist ihm Ruh und Behagen beschieden.
Er sucht sein Glück in der eignen Brust,
Gönnt sich mit Maßen jede Lust.
<24>Er ist den Freuden des Daseins hold,
Dem Wein und der Liebe, der Kunst und dem Gold,
Ist vergnügt in geselligem Kreise.
Erst das ist Leben: das nenne ich weise.
Nie hat ihn Leidenschaft übermocht,
Auch nie der Ehrgeiz ihn unterjocht,
Vom Tagesstreite bleibt er unberührt.
So ist das Ziel, zu dem die Weisheit führt.


22-1 Vgl. Bd. IX, S. 6 und 16.

23-1 Anspielung auf König Friedrich Wilhelm I. und seinen vergeblichen Widerstand gegen die Erhebung Augusts III. auf den erledigten polnischen Thron, die 1735 im Wiener Präliminarfrieden zwischen Österreich und Frankreich vereinbart wurde.